Totes Mädchen in Köniz - «Über 95 Prozent der Tötungsdelikte an Kindern werden aufgeklärt»

Publiziert

Totes Mädchen in Köniz«Über 95 Prozent der Tötungsdelikte an Kindern werden aufgeklärt»

Nach wie vor ist unklar, was mit der achtjährigen E.A.*, die tot in einem Wald aufgefunden wurde, passiert ist. Strafrechtsexperte Jonas Weber erklärt, was die Verhaftung wegen vorsätzlicher Tötung bedeutet.

Darum gehts

Seit Dienstagabend ermittelt die Berner Polizei mit Hochdruck im Fall der achtjährigen E.A.*. Am Donnerstag vermeldete die Polizei, dass im Zusammenhang mit dem Fall eine Person aus dem Umfeld von A. festgenommen worden ist. Gegen sie wird wegen «vorsätzlicher Tötung» ermittelt. Die Kapo bestätigt aber am Freitagmorgen, dass auch ein tragisches Ereignis nach wie vor nicht auszuschliessen ist.

Doch wann spricht die Justiz von vorsätzlicher Tötung, wann von Mord und wann von Totschlag? Was bedeutet die Verhaftung und kann die Anklage letztlich doch auf Mord lauten? Jonas Weber, Direktor des Departements für Strafrecht der Universität Bern, beantwortet die wichtigsten Fragen.

Die Person aus dem Umfeld des Opfers wurde wegen vorsätzlicher Tötung festgenommen. Was bedeutet das?

Die vorsätzliche Tötung ist sozusagen der «Normalfall» bei Tötungsdelikten. Wenn jemand getötet wird, gehen die Ermittlungsbehörden erst einmal von einer vorsätzlichen Tötung aus.

Wie wird die Abgrenzung zum Mord gemacht?

Von Mord spricht man dann, wenn die Art und Weise, wie jemand getötet wird, besonders schlimm ist. Oder wenn das Motiv besonders verwerflich ist. Hier gibt es wiederum verschiedene Möglichkeiten: Wenn jemand tötet, um einen sexuellen Trieb zu befriedigen oder um sich zu bereichern. Auch das Beispiel mit den Wilderern in Deutschland, die zwei Polizisten ermordet haben, ist exemplarisch für ein verwerfliches Motiv: Sie wollten eine andere Straftat verwischen.

Und zum Totschlag?

Der steht auf der anderen Seite der Skala. Da sagt das Gesetz, dass das Delikt in Teilen nachvollziehbar war. Wenn etwa jemand sehr stark provoziert oder in eine emotionale Ausnahmesituation gebracht wird, kann es sich um Totschlag handeln. Zwei Konstellationen kommen häufig vor: Wenn jemand sehr stark berührt ist vom Leiden einer Person und diese tötet, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Ein anderes klassisches Beispiel ist der Ehemann, der ins Schlafzimmer läuft und seine Ehefrau beim Sexualverkehr mit einer anderen Person erwischt und dann aus dem Affekt tötet.

Kann der Verhaftungsgrund im Verlauf der Ermittlungen bis zu einer allfälligen Anklage noch angepasst werden?

Sicher. Die Polizei schliesst auch ein tragisches Ereignis nach wie vor nicht aus. Möglicherweise ist aufgrund der Art der Verletzung schwierig festzustellen, ob das Mädchen aufgrund einer Dritteinwirkung gestorben ist oder nicht. Wenn sie beispielsweise starke Kopfverletzungen aufweist, ist es möglich, dass ihr ein schwerer Ast auf den Kopf gefallen ist, aber auch, dass jemand sie mit einem Ast erschlagen hat. Auch bei einem Erstickungstod kann es für die Rechtsmedizin teilweise schwierig sein, den genauen Hergang zu klären: Das Mädchen könnte sich in etwas verfangen haben und so tragisch erstickt sein. Oder jemand hat es erwürgt.

Jonas Weber ist Ordinarius für Strafrecht und Kriminologie und Geschäftsführender Direktor des Departements für Strafrecht der Universität Bern.

Jonas Weber ist Ordinarius für Strafrecht und Kriminologie und Geschäftsführender Direktor des Departements für Strafrecht der Universität Bern. 

BZ

Ist es üblich, dass man nach drei Tagen Ermittlungen immer noch nicht sagen kann, ob es sich um ein Delikt oder einen Unfall handelt?

Das kommt schon vor. Wenn die Rechtsmedizin sagt, dass sie nicht wissen, was genau passiert ist, bleibt der Staatsanwaltschaft nicht viel mehr übrig, als Spuren zu suchen und Befragungen durchzuführen.

Wie oft bleiben solche Fälle ungeklärt?

Die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten beträgt in der Schweiz etwa 95 Prozent. Bei Kindern ist die Aufklärungsquote noch höher.

Bei welchen Tötungsdelikten bestehen die grössten Unsicherheiten?

Am häufigsten nicht restlos geklärt werden können vermeintliche Suizide, die dann gar nicht als Tötungsstraftaten ausgewiesen werden. Oft kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden, ob die Person sich tatsächlich selber umgebracht hat, auch wenn vieles darauf hindeutet. Bei einem achtjährigen Mädchen ist das aber unwahrscheinlich.

Was passiert mit einem Fall, bei dem nicht eindeutig gesagt werden kann, was passiert ist?

Das ist sehr spannend. Es gibt viele Fälle, die man damit abschliesst, dass man von einer natürlichen Todesursache ausgeht. Dann kann es aber sein, dass Jahre später aufgrund neuer Aussagen oder Indizien Zweifel aufkommen. Niemand kann sagen, wie viele Fälle es in der Schweiz gibt oder gegeben hat, bei denen eine natürliche Todesursache festgestellt wird, in Tat und Wahrheit aber ein Tötungsdelikt vorliegt. Wenn die Rechtsmedizin in 100 Fällen mit 95-prozentiger Sicherheit eine Dritteinwirkung ausschliesst, bedeutet das, dass fünf Fälle als Unfälle abgelegt wurden, obwohl es ein Delikt war. Die grosse Frage ist: Welche fünf dieser 100 Fälle waren es?

*Name der Redaktion bekannt. 

Hast du oder hat jemand, den du kennst, ein Kind verloren?

Hier findest du Hilfe:

Fachstelle Kindsverlust, Beratung während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit

Himmelskind.ch, für Akuthilfe und Trauerbegleitung

SIDS, nach plötzlichem Kindstod

Verein Regenbogen Schweiz, Hilfe für trauernde Familien

Mein-Sternenkind.ch, für betroffene Väter, Familien, Angehörige

Lifewith.ch, für betroffene Geschwister

Appella, Telefon- und Onlineberatung bei früher Fehlgeburt

Pro Pallium, Trauergespräche und Trauertreffen

Seelsorge.net, Angebot der reformierten und katholischen Kirchen

Muslimische Seelsorge, Tel. 043 205 21 29

Aktivier jetzt den Bern-Push!

Etwas gesehen, etwas gehört?

Schick uns deinen News-Input!

Speichere unseren Kontakt im Messenger deiner Wahl und sende spannende Videos, Fotos und Dokumente schnell und unkompliziert an die 20-Minuten-Redaktion.

Handelt es sich um einen Unfall oder ein anderes Unglück, dann alarmiere bitte zuerst die Rettungskräfte.

Die Verwendung deiner Beiträge durch 20 Minuten ist in unseren AGB geregelt: 20min.ch/agb

My 20 Minuten

Deine Meinung zählt