Vergewaltigung: Kommen Täter mit zu milden Urteilen davon?

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«Lächerlich tiefe Strafen»Kommen Vergewaltiger mit zu milden Urteilen davon?

In der Schweiz fordern vier von fünf Personen härtere Strafen für Vergewaltiger. Doch nur etwas mehr als die Hälfte der Täter muss ins Gefängnis. Warum? Vom Opfer bis hin zur ehemaligen Richterin – zwölf Menschen teilen ihre Perspektive.

Die Dauer der Haftstrafen bei Vergewaltigung hat sich seit den 1980er-Jahren fast verdoppelt und liegt heute im Schnitt bei 4,5 Jahren. Möglich wären Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren.

Die Dauer der Haftstrafen bei Vergewaltigung hat sich seit den 1980er-Jahren fast verdoppelt und liegt heute im Schnitt bei 4,5 Jahren. Möglich wären Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren.

20 Minuten/Tom Vaillant

Darum gehts

  • Eine repräsentative Umfrage ergab: 78 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, dass Vergewaltiger zu mild bestraft werden.

  • Von den Vergewaltigern, die verurteilt werden, muss etwas mehr als die Hälfte ins Gefängnis.

  • Im Schnitt bleiben sie dort 4,5 Jahre – möglich wären bis zu zehn Jahre.

  • Braucht es härtere Strafen? Die Mehrheit der zwölf von 20 Minuten befragten Personen bejaht diese Frage. Es gibt aber auch Gründe, die dagegen sprechen.

Trotz Schuldspruch muss der Bündner Richter, der seine Praktikantin vergewaltigt haben soll, nicht ins Gefängnis. Das Gericht in Chur verurteilte ihn letzte Woche zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 23 Monaten sowie einer bedingten Geldstrafe. Straf­verteidigerin Angelina Grossenbacher stufte das Strafmass gegenüber dem «Tages-Anzeiger» als «eher tief» ein.

Die Frage nach der richtigen Strafe für Vergewaltiger spaltet Justiz und Gesellschaft. 78 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, dass sie mit zu milden Strafen davonkommen. Dies ergab eine repräsentative Umfrage von Sotomo im Auftrag des «Nebelspalters» im September.

Das Gesetz sieht für Vergewaltigungen Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vor. Tatsächlich wird dieser Rahmen aber seit Jahren kaum ausgereizt. Von 75 Männern, die 2023 wegen Vergewaltigung verurteilt wurden, erhielten 41 eine unbedingte Freiheitsstrafe – 4,5 Jahre im Schnitt.

Was gilt als Vergewaltigung?

Am 1. Juli trat das überarbeitete Sexualstrafrecht in Kraft. Galt früher nur die erzwungene vaginale Penetration als Vergewaltigung, umfasst der Begriff nun mehr sexuelle Handlungen. Nach dem «Nein heisst Nein»-Grundsatz liegt eine Vergewaltigung zudem schon vor, wenn das Opfer durch Worte oder Gesten zeigt, dass es nicht einverstanden ist. Neu braucht es also keine Nötigung mehr und auch Männer können Opfer sein. Eine Mindeststrafe sieht das Gesetz aber nur vor, wenn eine Nötigung vorliegt, etwa durch Drohung, Gewalt oder psychischen Druck. Dies wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren bestraft.

Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Was ist zu tun? 20 Minuten hat Feministinnen, Psychologen, Juristinnen und Politiker nach ihrer Perspektive gefragt – und zwölf Antworten erhalten.

Jennifer Meyer, Betroffene

Jennifer Meyer (24) wurde als Kind Opfer sexueller Gewalt. Der Beschuldigte soll die damals Zehnjährige mehrmals vergewaltigt haben. Die Luzernerin sah im deutlich älteren Mann eine Vaterfigur. Im Februar dieses Jahres kam es zum Prozess, der mit einem Freispruch endete. Meyer will das Urteil weiterziehen: «Wir warten noch auf das begründete Urteil.»

Jennifer Meyer (24) wurde als Kind Opfer sexueller Gewalt. Der Beschuldigte soll die damals Zehnjährige mehrmals vergewaltigt haben. Die Luzernerin sah im deutlich älteren Mann eine Vaterfigur. Im Februar dieses Jahres kam es zum Prozess, der mit einem Freispruch endete. Meyer will das Urteil weiterziehen: «Wir warten noch auf das begründete Urteil.»

Privat

«Ich hatte ein gutes Gefühl bei der Verhandlung, fühlte mich von der Richterin verstanden. Als ich das Urteil – Freispruch – hörte, war ich am Boden zerstört. Ein Kind zu missbrauchen, ist etwas vom Brutalsten, was man tun kann. Generell finde ich die Strafen für Vergewaltigungen zu tief. 4,5 Jahre im Schnitt für eine zerstörte Menschenseele? Wäre ich Richterin, würde ich lebenslänglich geben. Mit 17 merkte ich in meiner ersten Beziehung, dass mit mir vieles nicht stimmt, auch sexuell. Aktuell mache ich eine Traumatherapie. Ich appelliere an die Gesellschaft, diese Themen ernster zu nehmen.»

Daniel Jositsch, Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat

Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor, wollte schon 2008 in einem Postulat wissen, warum die Strafen bei Vergewaltigungen «im untersten Drittel» des möglichen Strafrahmens verharrten.

Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor, wollte schon 2008 in einem Postulat wissen, warum die Strafen bei Vergewaltigungen «im untersten Drittel» des möglichen Strafrahmens verharrten.

20min/Matthias Spicher

«Aus meiner Sicht ist die aktuelle Praxis eine eigentliche Verweigerung des gesetzgeberischen Willens. Die Staatsanwälte müssen konsequent höhere Strafen fordern und die Richter müssen den Willen des Parlaments umsetzen.»

Agota Lavoyer, Opferhilfeberaterin

Agota Lavoyer ist Opferhilfeberaterin und Expertin für sexualisierte Gewalt. Mit Sim Eggler hat sie das Buch «Ermutigt» geschrieben für Betroffene von sexualisierter Gewalt.

Agota Lavoyer ist Opferhilfeberaterin und Expertin für sexualisierte Gewalt. Mit Sim Eggler hat sie das Buch «Ermutigt» geschrieben für Betroffene von sexualisierter Gewalt.

Christian Pfander / Tamedia

«Die Strafen für sexualisierte Gewalt werden von Betroffenen regel­mässig als zu niedrig empfunden. Die einen empfinden das Strafmass als Hohn. Andere sind erleichtert, wenn es nur eine bedingte Strafe gibt, weil ihr Fokus eher auf Massnahmen wie Lernprogrammen oder Berufsverboten liegt. Wichtig ist, dass Gerichte diese Lernprogramme auch verordnen.»

Patrizia Krug, Erste Staatsanwältin im Kanton Baselland

Jacqueline Bannwarth (links) und Patrizia Krug teilen sich das Amt der Ersten Staatsanwältin im Kanton Baselland. Laut Krug ist der Umgang der Justiz mit Sexualstraftätern zu milde: «Immerhin sieht das Gesetz für Vergewaltigung eine Strafe von bis zu zehn Jahren vor!», sagt sie.

Jacqueline Bannwarth (links) und Patrizia Krug teilen sich das Amt der Ersten Staatsanwältin im Kanton Baselland. Laut Krug ist der Umgang der Justiz mit Sexualstraftätern zu milde: «Immerhin sieht das Gesetz für Vergewaltigung eine Strafe von bis zu zehn Jahren vor!», sagt sie.

Sabrina Stäubli

«Ich frage mich oft, was es braucht, damit das Gericht höhere Strafen ausspricht. Selbst bei Taten, die so brutal sind, dass ich mir gar nichts Schlimmeres vorstellen kann, sehen die Gerichte oft von der Höchststrafe ab.»

Stefan Häusler, Generalsekretär des Berner Obergerichts

«Die Aufgabe der Gerichte sei es, den Einzelfall zu beurteilen und alle Umstände zu berücksichtigen», sagt Stefan Häusler, Generalsekretär des Berner Obergerichts.

«Die Aufgabe der Gerichte sei es, den Einzelfall zu beurteilen und alle Umstände zu berücksichtigen», sagt Stefan Häusler, Generalsekretär des Berner Obergerichts.

Privat

«Als Gericht sind wir überzeugt, dass unsere Strafen grundsätzlich angemessen sind. Wir beurteilen den Einzelfall und berücksichtigen alle Umstände. Dabei halten wir uns an den Strafrahmen und die dazu entwickelte Rechtsprechung. Wenn man die darauf basierenden Strafen als zu mild erachtet, ist es an der Politik, das Gesetz zu ändern.»

Marianne Heer, Ex-Oberrichterin in Luzern

Marianne Heer war 20 Jahre lang Oberrichterin in Luzern und sieht eher einen Trend zu härteren Urteilen.

Marianne Heer war 20 Jahre lang Oberrichterin in Luzern und sieht eher einen Trend zu härteren Urteilen.

Annick Ramp

«Die Urteile sind sehr viel härter als noch vor zehn Jahren. Es werden deutlich höhere Strafen ausgesprochen. Natürlich gibt es Fälle, wo auch ich die Strafen als zu tief erachte. Als Laie ist es schwierig, die Strafzumessung der Gerichte zu beurteilen.»

Pascal Schmid, SVP-Nationalrat und Ex-Richter

Früher Richter, jetzt SVP-Nationalrat: Pascal Schmid kritisiert, dass viele Vergewaltiger nicht ins Gefängnis müssen.

Früher Richter, jetzt SVP-Nationalrat: Pascal Schmid kritisiert, dass viele Vergewaltiger nicht ins Gefängnis müssen.

20min/Matthias Spicher

«Vergewaltiger dürfen nicht mehr mit lächerlich tiefen, oft bedingten Strafen davonkommen. Die Gerichte schöpfen den Strafrahmen nicht ansatzweise aus. Diese Praxis muss sich ändern, sonst entfernt sich die Strafjustiz immer mehr vom Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung.»

Sibel Arslan, Grünen-Nationalrätin

Die grüne Nationalrätin Sibel Arslan sprach sich dafür aus, beide Strafen beizubehalten: «Reine Freiheitsstrafen laufen dem System zuwider. Geldstrafen können es Opfern erleichtern, Anzeige zu erstatten.»

Die grüne Nationalrätin Sibel Arslan sprach sich dafür aus, beide Strafen beizubehalten: «Reine Freiheitsstrafen laufen dem System zuwider. Geldstrafen können es Opfern erleichtern, Anzeige zu erstatten.»

20min/Matthias Spicher

«Gerichte sollen ihren Spielraum nutzen und die Realität der Opfer anerkennen. Oft bestehen Beziehungen zwischen Täter und Opfer, wodurch häusliche Gewalt als weniger schwerwiegend angesehen wird. Nicht nur Freiheitsstrafen, sondern auch hohe Geldstrafen können abschreckend wirken.»

Daniel Bogner, Theologe und Dozent

Professor Daniel Bogner forscht an der Universität Freiburg unter anderem zu Ethik, Glaube und Moral.

Professor Daniel Bogner forscht an der Universität Freiburg unter anderem zu Ethik, Glaube und Moral.

Charles Ellena

«Beim unbedingten Respekt vor der körperlichen Integrität von Menschen gibt es noch viel Luft nach oben, besonders auf dem Feld der Sexualität. Derart milde Urteile hängen dem Wertewandel der Gesellschaft hinterher. Deshalb appelliere ich an die Gerichte, dem wachsenden Respekt vor der leiblichen Verletzlichkeit von Menschen Rechnung zu tragen.»

Benjamin F. Brägger, Justizvollzugsexperte

«Ich bin der Meinung, dass Vergewaltiger immer ins Gefängnis gehen müssten», sagt Benjamin F. Brägger. Er ist seit über 30 Jahren im Strafvollzug tätig, als Führungskraft in Strafanstalten und als Amtsleiter eines kantonalen Amtes für Justizvollzug.

«Ich bin der Meinung, dass Vergewaltiger immer ins Gefängnis gehen müssten», sagt Benjamin F. Brägger. Er ist seit über 30 Jahren im Strafvollzug tätig, als Führungskraft in Strafanstalten und als Amtsleiter eines kantonalen Amtes für Justizvollzug.

Privat

«Nicht vorbestrafte Vergewaltiger, die keine besondere Gewalt gegenüber dem Opfer anwenden, werden regelmässig sehr milde mit einer bedingten Freiheitsstrafe bestraft. Muss der Täter nicht ins Gefängnis, wird dies von den Opfern nicht verstanden. Die heutige Gerichtspraxis sendet das falsche Signal aus, dass eine Vergewaltigung kein wirklich schlimmes Delikt sei. Ich bin der Meinung, dass Vergewaltiger immer ins Gefängnis gehen müssten.»

Nina Fehr Düsel, SVP-Nationalrätin

Nationalrätin Nina Fehr Düsel (SVP) war im Komitee «Keine Geldstrafen für Vergewaltiger».

Nationalrätin Nina Fehr Düsel (SVP) war im Komitee «Keine Geldstrafen für Vergewaltiger».

20min/Matthias Spicher

«Ich würde eine Verschärfung begrüssen. Das wäre im Sinne der Opfer, die oft noch jahrelang betreut werden müssen. Es braucht eine Revision des Sexualstrafrechts, aber auch bürgerliche Richterinnen und Richter, die den Strafrahmen ausschöpfen.»

Tamara Funiciello, Feministin und SP-Nationalrätin

Tamara Funiciello ist Feministin und SP-Nationalrätin. Sie sagt: «Das Hauptproblem ist, dass nur acht Prozent der Betroffenen überhaupt Anzeige erstatten.»

Tamara Funiciello ist Feministin und SP-Nationalrätin. Sie sagt: «Das Hauptproblem ist, dass nur acht Prozent der Betroffenen überhaupt Anzeige erstatten.»

20min/Ela Çelik

«Ein höheres Strafmass führt nicht automatisch zu härteren Strafen. Im Gegenteil: Ist das Strafmass zu hoch, erstatten die Frauen keine Anzeige, wenn etwa der eigene Ehemann der Täter ist. Das Hauptproblem ist, dass nur acht Prozent der Betroffenen überhaupt Anzeige erstatten. Eine bessere Spurensicherung und Betreuung in den Krisenzentren, kann auch zu mehr Verurteilungen und höheren Strafen führen.»

Braucht es härtere Strafen für Vergewaltiger?

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Alter ohne Gewalt, Tel. 0848 00 13 13

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Beratungsstellen für gewaltausübende Personen

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