Unwetter: «Schäden akzeptieren, um Leben zu retten»

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Wasserbau-Experte«Schäden müssen in Kauf genommen werden, um Leben zu schützen»

Heftige Niederschläge führten in Österreich, Tschechien und Polen zu dramatischen Überschwemmungen. Mehrere Menschen kamen ums Leben. Dazu Wasserbau-Experte Robert Boes.

Die schweren Unwetter haben in der tschechischen Stadt Jeseník die Strassen in reissende Flüsse verwandelt. In der Nacht auf Montag hat sich das Hochwasser zurückgezogen. Auch wenn sich den Einwohnern ein Bild der Zerstörung zeigt, sind sie optimistisch.

Darum gehts

  • Heftige Niederschläge führten in mehreren europäischen Ländern zu Überschwemmungen.

  • Wasserbau-Experte Robert Boes erklärt, warum Hochwasserdämme unter extremen Bedingungen versagen und wie der Hochwasserschutz verbessert werden kann.

  • Er fordert mehr natürliche Überschwemmungsflächen, technische Schutzmassnahmen und eine bessere Sensibilisierung der Bevölkerung.

Robert Boes erklärt im Interview, warum Dämme unter solchen extremen Bedingungen versagen und welche Massnahmen künftig notwendig sind, um Wetterkatastrophen zu verhindern.

Zum Experten

Robert Boes ist Professor für Wasserbau und Leiter der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich.

Bereits vergangene Woche warnten die Behörden vor Unwetter in Österreich, Polen und Tschechien. Dennoch kam es zu grossen Überschwemmungen. Weshalb?
Bei grossflächigen und lang andauernden Wetterereignissen, wie wir sie gerade in den genannten Ländern erlebt haben, können die Behörden oft frühzeitig reagieren. Es wurden beispielsweise Barrieren errichtet und Talsperren entleert, um das kommende Hochwasser besser kontrollieren zu können.

«Trotz aller technologischen Fortschritte bleibt die Natur unberechenbar.»

Aber manchmal reichen die Massnahmen nicht aus, wenn die Abflüsse grösser sind als die Abflusskapazität der Gewässer. In solchen Fällen kann man die Schäden vielleicht mindern, aber nicht vollständig verhindern. Wichtig ist, dass Menschen die Warnungen der Behörden ernst nehmen, um zumindest Leben zu retten. Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz aller technologischen Fortschritte die Natur unberechenbar bleibt, obwohl die hydrologischen Vorhersagen dieses Mal besser und langfristiger waren als noch beim letzten grossen Hochwasser in dieser Region 2002.

Nach den heftigen Niederschlägen kam es in Niederösterreich zu zahlreichen Dammbrüchen. Wie kann das sein?
Grundsätzlich handelt es sich dabei um Hochwasserschutzdämme entlang der Flüsse. Diese Dämme sind auf einen bestimmten Wasserstand ausgelegt. Wenn das Wasser jedoch diesen festgelegten Pegel übersteigt und über den Damm strömt, kann dieser beschädigt werden und erodieren. Das ist ein Prozess, den man über grössere Dammstrecken nicht vollständig verhindern kann. Ziel sollte es daher sein, zu verhindern, dass es überhaupt zu einem Überströmen kommt, zum Beispiel mit gezielten erosionssicheren Notentlastungen auf landwirtschaftlichen Flächen oberhalb von kritischen Flussabschnitten.

Ein Anwohner der Ludwiggasse im Wiener Stadtteil Penzing berichtet, wie am Sonntag der Wienfluss über die Ufer trat. Die Feuerwehr habe die Leute gewarnt und die Stärke der Strömung sei unglaublich gewesen.

Welche Massnahmen müssen ergriffen werden, um die Bevölkerung zu schützen?
Der technische Hochwasserschutz, wie der Bau von Rückhaltebecken und Notentlastungsräumen, muss verstärkt werden, und es braucht mehr natürliche Überschwemmungsflächen, sogenannte Auen, die in den letzten Jahrzehnten verschwunden sind. Diese können helfen, Wasser aufzufangen und Schäden zu verringern. Oftmals sind Flussgebiete jedoch stark überbaut, was es schwierig macht, solche Überschwemmungsflächen zu finden. Dennoch sollten Notentlastungsräume geschaffen und Schwachstellen in der Infrastruktur, wie zu tief liegende Brücken, systematisch identifiziert und behoben werden. Auch das Aufweiten von Gewässern hilft, den Wasserspiegel abzusenken.

«Bei extremen Ereignissen müssen Schäden in Kauf genommen und vor allem Menschenleben geschützt werden.»

Für Städte könnte das Schwammstadt-Konzept eine Lösung sein. Es zielt darauf ab, mehr Regenwasser zu speichern, zum Beispiel durch begrünte Dächer oder unterirdische Wasserspeicher. Auch die Nutzung von Strassen als Abflusskorridore oder der Einsatz von Wassersperren auf Gehwegen könnten dazu beitragen, Überschwemmungen zu kontrollieren.

Aber: Technologische Lösungen allein werden nicht ausreichen, um die Naturgewalten zu bewältigen. Der Schutz vor häufigen Hochwasserereignissen muss ausgebaut werden, während bei extremen Ereignissen Schäden in Kauf genommen und vor allem Menschenleben geschützt werden müssen. Auch die Bevölkerung muss sensibilisiert werden.

«Viele Menschen glauben nicht, dass solche Naturkatastrophen sie treffen könnten.»

Was meinen Sie damit?
Es besteht oft ein Unverständnis gegenüber den Risiken: Viele Menschen glauben nicht, dass solche Naturkatastrophen sie treffen könnten, besonders wenn längere Zeit nichts passiert ist. In Brienz (BE) gab es zum Beispiel jahrelange Diskussionen um den Bau eines Geschieberückhaltebeckens. Erst als das Hochwasser im letzten August kam, wurde klar, wie wichtig diese Massnahmen sind. Wir sollten schon früh anfangen, die Bevölkerung zu sensibilisieren, ähnlich wie in Japan, wo regelmässig Erdbebenübungen in Schulen durchgeführt werden.

Wie gut fühlst du dich in der Schweiz vor Naturkatastrophen wie Hochwasser geschützt?

Wie geht es jetzt in den von Hochwasser betroffenen Gebieten weiter?
Nach den Unwettern müssen die Schäden bewertet und aufgeräumt werden. Danach wird eine detaillierte Analyse der Ereignisse erfolgen, und das Notfallmanagement wird die Lehren aus der Situation ziehen. Die Behörden analysieren jedes Ereignis, um daraus zu lernen und zukünftige Massnahmen zu verbessern. Letztendlich wird es auch in Österreich notwendig sein, in Zukunft verstärkt in Hochwasserschutz zu investieren.

Wie gut ist die Schweiz auf solche Naturereignisse vorbereitet?
Die Schweiz hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Viele Hochwasserschutzprojekte wurden umgesetzt und Schwachstellen in gefährdeten Gebieten behoben. Trotzdem gibt es noch viel zu tun, zum Beispiel an Rhone und Alpenrhein – und es wird immer Restrisiken geben. Wichtig ist, dass wir weiter daran arbeiten, Risiken zu minimieren und die Bevölkerung aufzuklären.

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