Mutter erzählt«Bilder helfen, Lennard einen Platz in unserer Familie zu geben»
Fünf Tage vor der Geburt starb Sarahs Baby. Sie und ihr Mann entschieden sich dennoch, sich mit ihrem Kind fotografieren zu lassen – ein letzter gemeinsamer Moment.
Darum gehts
- Sarah und Philipp Lingg verloren ihren Sohn Lennard fünf Tage vor der Geburt.
- Trotz Kritik aus der Familie entschieden sie sich für Fotos mit ihrem verstorbenen Kind.
- Die Bilder helfen, Lennard einen Platz in der Familie zu geben und die Erinnerung zu bewahren.
- Mit 20 Minuten teilt die Familie ihre Geschichte und erzählt, was ihnen die Bilder bedeuten.
August 2017. Sarah Lingg (damals 34) und ihr Mann Philipp freuten sich auf ihr erstes gemeinsames Kind. Doch fünf Tage vor dem Geburtstermin hörte das Herz ihres Sohnes Lennard plötzlich auf zu schlagen. Die Geburt musste eingeleitet werden – Sarah brachte ihn tot zur Welt. «Man fällt in ein schwarzes Loch», sagt Sarah zu 20 Minuten.
Familie kritisierte die Entscheidung, Lennard zu fotografieren
Noch vor der Geburt empfahl eine entfernte Bekannte dem Paar den Verein Herzensbilder, erzählt Sarah. Dieser vermittelt freiwillige Fotografinnen und Fotografen, die Aufnahmen von schwerkranken, sterbenden oder verstorbenen Kindern machen. «Wir kannten das nicht, aber die Fotos auf der Website waren schön und würdevoll.»
«Ich wollte Bilder von meinem Kind.»
Sarah und Philipp wollten so einen Fototermin ausmachen, doch kritische Stimmen aus der Familie hätten sie zurückgehalten. «Warum wollt ihr ein totes Kind fotografieren lassen?», fragten einige. Das habe Sarah verunsichert. Doch ihr Herz habe ihr gesagt: «Ich wollte Bilder von meinem Kind.»
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«Es war ein Moment voller Liebe»
Am Morgen nach Lennards Totgeburt kam die Fotografin ins Spital. «Sie brachte eine Tasche mit – darin war eine Kerze, eine Decke, ein kleines Fell. Es war so liebevoll. Sie hat Ruhe in diesen emotionalen Ausnahmezustand gebracht.» Sarah habe über Stunden gezögert, ihren toten Sohn anzuschauen, erzählt sie. «Die Fotografin sagte dann, ich solle ihn doch in den Arm nehmen.» Nach erster Überwindung tat sie das.

Sie hielt Lennard zum ersten Mal. «Es war ein unglaublicher Moment. Ich konnte mein Kind anschauen, ihn halten und ihn würdigen. Es war traurig, aber auch schön.» Die Fotos zu machen, sei nicht unangenehm gewesen – im Gegenteil. «Die Bilder zeigen Lennard – uns als kleine Familie.» Natürlich zeige das Bild ein totes Baby: «Aber es sind keine Schockbilder, sondern schöne Bilder unseres Kindes, das wir verloren haben.»
«Diese Bilder geben Lennard einen Platz in unserer Familie»
Heute, fast acht Jahre später, haben Sarah und Philipp zwei weitere Kinder – sie sind drei und sechs Jahre alt. Auch sie kennen die Bilder ihres grossen Bruders: «Wir sprechen mit ihnen darüber, gehen gemeinsam zum Friedhof, bringen eine Kerze. Für sie ist klar: Das ist Lennard. Ihr Bruder.»
«Wir werden Lennard nie vergessen – er gehört dazu.»
Die Fotos hätten sie auf einem Memory-Stick zu Hause. Zudem hänge ein Abzug der Bilder an der Wand – wie von jedem ihrer Kinder. «Die Bilder helfen, Lennard einen Platz in unserer Familie zu geben. Wir werden ihn nie vergessen – er gehört dazu.»
«Das Thema Sternenkinder muss raus aus der Tabuzone»
Sarah weiss: «Der Verlust eines Kindes ist nach wie vor ein Tabuthema. Dabei wäre es so wichtig, dass man sich austauschen kann – über den Verlust und die Trauer.» Sie selbst engagiert sich heute in der Trauerbegleitung und hilft anderen Frauen, die ein Kind verloren haben. Auch bei medizinisch notwendigen Abbrüchen oder Totgeburten in frühen Schwangerschaftswochen brauche es mehr Sichtbarkeit. «Es ist trotzdem eine Geburt. Es sind trotzdem Wehen, Hormone, Gefühle – und am Ende: ein Kind.»
«Die Bilder geben uns Erinnerungen zurück, die sonst verblasst wären.»
Sarah ist dankbar, dass sie sich damals entgegen Kritikern aus ihrem Umfeld für die Bilder entscheiden hat. «Es war das, was wir in dem Moment gebraucht haben.» Wenn Sarah heute die Fotos von Lennard anschaut, mischen sich Stolz, Liebe und Trauer. «Man vergisst so viel. Wie klein seine Händchen waren, wie schwer er sich anfühlte. Die Bilder geben uns Erinnerungen zurück, die sonst verblasst wären.»
Die beiden Fotografinnen Nathalie und Yvonne arbeiten ehrenamtlich bei Herzensbilder. 20 Minuten haben sie erzählt, was ihnen die Arbeit bedeutet. Den Artikel kannst du hier nachlesen.
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Anja Zobrist (zoa) ist Redaktorin und Content Creator im Ressort News und Gesellschaft. Das Journalistenhandwerk erlernte sie an der Ringier Journalistenschule in Zürich. Anschliessend absolvierte sie den CAS Innovation im Journalismus an der ZHAW Winterthur und dem MAZ Luzern.
