Versuchte Frauentötung«Auf die Eskalation folgt eine innige Versöhnung»
Jede Woche überlebt eine Frau einen Tötungsversuch, einen sogenannten versuchten Femizid. 20 Minuten gibt diesen Frauen eine Stimme. Im Experteninterview erklärt Pia Allemann, weshalb Frauen oft mehrere Anläufe für die Trennung brauchen und was die sogenannte Honeymoon-Phase ist.
Darum gehts
Laut eidgenössischem Gleichstellungsbüro erfolgt jede Woche ein Tötungsversuch an einer Frau.
Angst und Scham halten die Frauen ab, ihre Geschichte zu erzählen.
Fünf von ihnen brechen ihr Schweigen und erzählen bei 20 Minuten, was sie erlebt haben.
Im Interview erklärt Expertin Pia Allemann, weshalb eine Trennung für viele Frauen so schwer ist.
«Häusliche Gewalt kommt in allen Schichten vor», sagt Allemann.
Pia Allemann ist Co-Geschäftsleiterin von BIF, Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Das BiF setzt sich dafür ein, dass Gewalt an Frauen in Beziehungen nicht als individuelles, sondern gesellschaftliches Problem betrachtet wird. Im Interivew erklärt Pia Allemann, was Betroffene tun können und wo häusliche Gewalt vorkommt.
20 Minuten: Frau Allemann, wir haben mit verschiedenen Frauen gesprochen, die von ihrem Ex-Partner fast getötet wurden. Meist waren die Männer bereits davor gewalttätig. Warum verlassen diese Frauen ihre Männer nicht viel früher?
Pia Allemann: Stellen Sie sich vor, sie trennen sich nach einer langjährigen Beziehung. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht, teils mit Zweifeln verbunden ist. Wer häusliche Gewalt erlebt, hat mit zusätzlichen Unsicherheiten und Widrigkeiten zu kämpfen. Und manche Frauen sind sich auch bewusst, dass bei einer Trennung die Gewalt nicht einfach aufhört, dass es möglicherweise noch mehr eskalieren kann.
Bleiben nicht auch viele Frauen, weil sie finanziell von ihrem Partner abhängig sind?
Ja. wenn eine Frau von ihrem Partner finanziell abhängig ist oder weiss, dass sie nicht für die Kinder sorgen kann, überlegt sie sich zweimal, ob sie geht. Kinder sind eh ein grosser Faktor: Viele Frauen wollen ihren Kindern die Väter nicht wegnehmen. Oftmals gibt es in solchen Partnerschaften nicht nur physische Gewalt, sonder auch psychische. Der Täter gibt dem Opfer das Gefühl, keinen Wert zu haben, macht es abhängig von ihm. Wenn man täglich hört, dass man nichts wert ist, beginnt man dies zu glauben. Erst recht wenn es die Person verbreitet, die man liebt. Und viele Frauen wollten sich nicht trennen, sie möchten nur, dass die Gewalt aufhört. Denn die Täter sind phasenweise die zuvorkommenden und netten Partner.
Sie sprechen die sogenannte “Honeymoon”-Phase an?
Genau. Auf eine Eskalation folgt oft eine sehr innige und intensive Versöhnung. Ähnlich wie in der ersten Verliebtheitsphase. Diese kittet die Paare stark zusammen.
Zur Serie
Fünf Frauen berichten
Jede Woche überlebt eine Frau in der Schweiz einen Femizidversuch. Ein Femizid bezeichnet die Tötung aufgrund des Geschlechts. 20 Minuten hat mit fünf Frauen gesprochen, die dem Tod nach einem solchen Angriff knapp entronnen sind. Das sind ihre Geschichten:
Dominique (30): «Mein Freund versuchte mich aus dem Fenster zu stossen»
Aline (28): «Zuerst nahm er mir Pass und Handy weg, dann ging er mit dem Messer auf mich los»
Julia (28): «Mein Freund erstickte mich fast mit dem Kissen»
Tanja (38) «Als ich die Wahrheit herausfand, wollte er mich töten»
Serena (49): «Er stach mit dem Messer auf mich ein, bis die Klinge brach»
Expertin Pia Allemann im Interview: «Auf die Eskalation folgt eine innige Versöhnung»
Die Frauen berichten oft auch von Scham.
Scham begleitet alle Gewaltbetroffenen oft. Denn wenn man sich trennt oder Hilfe holt, erfahren die Betroffenen oft Schuldzuweisung oder Unverständnis beim Umfeld. Es schwingt die Frage mit, warum sie sich so einen Partner ausgesucht hat.
Wer erlebt häusliche Gewalt?
Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Schichten und Kulturkreise. Natürlich gibt es Faktoren, die sie begünstigen: Geldprobleme, enge Platzverhältnisse oder wenn man in der Kindheit bereits Gewalt erlebt hat. Aber auch in gebildeten und reichen Haushalten gibt es häusliche Gewalt.
Was raten Sie Betroffenen?
Es gibt in der ganzen Schweiz Hilfsangebote, die vertraulich, kostenlos und teils auch anonym sind. Wichtig ist, sich frühzeitig Hilfe zu holen, um den Gewaltkreislauf zu durchbrechen. In akuten Gewaltsituation kann die Polizei oder das Frauenhaus Schutz bieten.
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Fachstelle Frauenberatung
Onlineberatung für Frauen (BIF)
Onlineberatung für Männer
Onlineberatung für Jugendliche
Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein
Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Dargebotene Hand, Tel. 143
Pro Juventute, Tel. 147