Versuchte Frauentötung«Mein Freund versuchte mich aus dem Fenster zu stossen»
Jede Woche überlebt eine Frau einen Tötungsversuch, einen sogenannten versuchten Femizid. 20 Minuten gibt diesen Frauen eine Stimme. Eine von ihnen ist Dominique (31). Dank den eindringlichen Worten eines Arztes entkam sie der Beziehung.
Darum gehts
Laut eidgenössischem Gleichstellungsbüro erfolgt jede Woche ein Tötungsversuch an einer Frau.
Angst und Scham halten die Frauen ab, ihre Geschichte zu erzählen.
Fünf von ihnen wollen ihr Schweigen brechen und erzählen bei 20 Minuten, was sie erlebt haben.
Eine davon ist Dominique (31).
Ihr Freund würgte sie, bis sie ohnmächtig wurde. Im Spital redete ein Arzt Klartext mit ihr.
Dominique arbeitet seit ihrem Lehrabschluss in einem Tierfachhandel. Im Gespräch wirkt sie offen und aufgestellt. Sie beschreibt sich als Familienmensch, hatte eine schöne Kindheit. Marco war ihre erste grosse Liebe.
«Wir lernten uns in einer Bar kennen und kamen kurz darauf zusammen. Am Anfang war unsere Beziehung perfekt. Es gab nie Situationen, bei denen ich Angst gehabt hätte. Nach rund einem Jahr starb völlig überraschend seine Mutter. Sie war seine einzige Familie, zum Rest hatte er keinen Kontakt. Nach ihrem Tod fing er an, sich zu verändern. Per Zufall entdeckte ich, dass er Rapporte führt, wann ich mit welchen Arbeitskollegen arbeite, wer sie sind und was sie machen. Ich kann mich noch sehr gut an den Abend erinnern, als er das erste mal gewalttätig wurde. Meine Eltern waren zu Besuch und er war den ganzen Abend unglaublich zuvorkommend. Marco war generell immer ein Charmeur. Als meine Eltern weg waren, rastete er aus. Es war, als sei ein Schalter umgelegt worden. Er hat das Geschirr zerschlagen und mich dann auf den Balkon gesperrt. An diesem Tag schlug er das erste Mal zu.
So fing es an. Nach diesem Abend hat er sich entschuldigt und beteuert, dass es nie mehr vorkommt. Er erzählte mir von seiner schweren Kindheit, die von Gewalt geprägt war. Ich konnte ihn nicht verlassen. Ich hatte das Gefühl, ich sei der einzige Mensch, den er noch hatte. Ab dann begann die Gewaltspirale. Schon bald hatte ich regelmässig blaue Flecken, zum Teil ganze Handabdrücke an den Armen. Ich zog mich von allen zurück, er isolierte mich von meinen Freunden. Wenn jemand fragte, log ich und fand Ausreden. Marco schlug mich nie ins Gesicht und ich trug oft lange Sachen, um die Verletzungen zu verdecken.
Viele Jobwechsel
Marco war ein temperamentvoller Mensch. Er hat nach der Lehre als Elektroinstallateur gearbeitet. Nach dem Tod seiner Mutter musste er häufig den Job wechseln, da er oft mit aggressivem Verhalten auffiel. Aber wenn er wollte, konnte er der netteste und zuvorkommendste Mensch der Welt sein.
Zur Serie
Fünf Frauen berichten
Jede Woche überlebt eine Frau in der Schweiz einen Femizidversuch. Ein Femizid bezeichnet die Tötung aufgrund des Geschlechts. 20 Minuten hat mit fünf Frauen gesprochen, die dem Tod nach einem solchen Angriff knapp entronnen sind. Das sind ihre Geschichten:
Dominique (30): «Mein Freund versuchte mich aus dem Fenster zu stossen»
Aline (28): «Zuerst nahm er mir Pass und Handy weg, dann ging er mit dem Messer auf mich los»
Julia (28): «Mein Freund erstickte mich fast mit dem Kissen»
Tanja (38) «Als ich die Wahrheit herausfand, wollte er mich töten»
Serena (49): «Er stach mit dem Messer auf mich ein, bis die Klinge brach»
Expertin Pia Allemann im Interview: «Auf die Eskalation folgt eine innige Versöhnung»
Ich hätte nie gedacht, dass ich häusliche Gewalt erleben werde. Vor meiner Beziehung zu Marco hatte ich Freundinnen, die Gewalt zu Hause erlebt haben. Ich sagte immer zu ihnen: “Geht! Verlasst ihn und diese Beziehung”. Dass mir das selbst passieren könnte? Unvorstellbar!
«Ich suchte nach versteckter Munition»
Ich habe mich fürchterlich geschämt. Und mir Vorwürfe gemacht. Marco hat immer mir die Schuld an allem gegeben und irgendwann habe ich ihm das geglaubt. Und falls ich ihm doch mal die Stirn bot, drohte er, meiner Familie etwas anzutun. Ich habe einen kleinen Bruder und ich war überzeugt, dass Marco imstande wäre, ihn zu verletzen. Ich fürchtete auch um mein eigenes Leben. Marco absolvierte Militärdienst und seine Dienstwaffe war bei uns zu Hause. Mehr als einmal suchte ich die ganze Wohnung nach versteckter Munition ab. Gefunden habe ich nie etwas. Und natürlich war da immer noch die Hoffnung, dass Marco sich ändern würde. Er hat auch behauptet, dass er in Therapie sei. Im Nachhinein hab ich erfahren, dass das gelogen war.
Die Nacht des Tötungsversuchs war die schlimmste Nacht meines Lebens und gleichzeitig meine Rettung. Wir hatten einen heftigen Streit und er versuchte, mich aus dem Fenster zu stossen. Ich habe mich mit aller Kraft gewehrt, da setzte er sich auf mich und würgte mich. Er liess erst von mir ab, als ich ohnmächtig wurde. Ich glaube, er dachte, ich sei tot, jedenfalls erschrak er heftig und rief den Krankenwagen.
Arzt redete ihr ins Gewissen
Im Spital wurde ich von einem Arzt untersucht, der so direkt mit mir sprach, dass es “Klick” machte. In einem strengen Ton sagte er zu mir: “Ich sehe jeden Tag Frauen wie Sie. Sie kommen immer wieder mit Verletzungen. Bis sie eines Tages nicht mehr kommen, weil sie gestorben sind. Getötet durch ihre Partner.” Diese Worte haben mir die Augen geöffnet.
Ich trennte mich von Marco. Geschafft habe ich dies dank meinem Umfeld. Nächtelang verbrachten sie bei mir in der Wohnung, weil ich Angst hatte, dass er auftauchen könnte. Zu Beginn versuchte er mich noch zu kontaktieren, drohte mir. Ich bekam Briefe mit Todesdrohungen. Mit denen ging ich zur Polizei. Ich fühlte mich sehr ernst genommen, sie suchten ihn auf und danach wurde es besser. Die Polizei empfahl mir, ihn anzuzeigen. Aber ich wollte einfach damit abschliessen.
Die Angst bleibt
Ich begann Sport zu machen, das hilft, sich abzulenken. Heute, vier Jahre später, geht es mir viel besser, auch dank professioneller Hilfe. Ich bin in einer neuen Partnerschaft, mein Freund kennt mich schon sehr lange und weiss auch von meiner Geschichte. Ganz ablegen kann ich die Angst vor Marco nicht, obwohl ich ihn seither nicht mehr gesehen habe.»
Um die Frauen zu schützen wurden einige Punkte in ihrer Biografie geändert.
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Fachstelle Frauenberatung
Onlineberatung für Frauen (BIF)
Onlineberatung für Männer
Onlineberatung für Jugendliche
Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein
Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Dargebotene Hand, Tel. 143
Pro Juventute, Tel. 147