Ernten in der Ukraine unter Raketen: Beten und Weiterarbeiten

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OstukraineErnten unter Raketen: «Ich bete und arbeite weiter»

Die Bauern im Donbass arbeiten weiter auf ihren Feldern. Doch die Front rückt näher und näher.

Die Front rückt näher: Mykola (57) aus Novomykolaivka im Osten der Ukraine erntet weiter.
Mykola zeigt das Kriegsmaterial, das er von seinem Sonnenblumenfeld einsammelt.
Wjatscheslaw (53) hat bereits zweimal unter russischer Besatzung gelebt, 2014 und 2022.  Er hat Angst, dass die russischen Truppen ein drittes Mal nach Novomykolaivka kommen.
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Die Front rückt näher: Mykola (57) aus Novomykolaivka im Osten der Ukraine erntet weiter.

20 Minuten/ Ann Guenter

Darum gehts

  • Die Bauern in Novomykolaiwka im Osten der Ukraine arbeiten im Krieg und  haben schon zweimal unter russischer Besatzung gelebt.

  • Seit 2014 sind ihre Felder durch Minen verseucht, was die Arbeit erschwert, doch sie bleiben mit dem Land verbunden.

  • Der Krieg beeinflusst die Natur und das Leben der Tiere, während die Front immer näher rückt.

Einer Legende nach hatte Gott alles Land auf der Erde verteilt. Eine Ukrainerin kam zu ihm und fragte: «Du hast alles verteilt, aber was bleibt noch für mich?» Gott meinte: «Ich habe dieses Stück Land für mich behalten, denn es ist das schönste und fruchtbarste, aber ich gebe es dir.» So sei die Ukraine entstanden. Und die ukrainische Flagge in Gelb und Blau: Das Gelb steht für Weizen, Sonnenblumen und Getreide, das Blau für den Himmel.

Novomykolaivka liegt gut 15 Kilometer nordwestlich von der Stadt Slawjansk entfernt. Und die Front rückt näher.

Novomykolaivka liegt gut 15 Kilometer nordwestlich von der Stadt Slawjansk entfernt. Und die Front rückt näher.

Screenshot DeepState

Die Bauern aus Novomykolaivka im Oblast Donezk im Osten der Ukraine erzählen diese Geschichte gerne. Stolz auf ihren Berufsstand, sehen sie sich als ein Rückgrat der Nation, als Versorger des Volkes. Daran ändert auch der Krieg nichts. In Novomykolaivka lebt man schon lange mit ihm. Denn in der etwa 15 Kilometer entfernten Stadt Slowjansk hatte er 2014 begonnen und ist seither nie wirklich verschwunden.

Wjatscheslaw (53) und Wladimir (28): «Einige der Schweine wurden von Soldaten gegessen.»

Wjatscheslaw (53) und Wladimir (28): «Einige der Schweine wurden von Soldaten gegessen.»

20 Minuten/ Ann Guenter

Zweimal unter russischer Besatzung

So erlebten die Bauern hier zweimal russische Besatzung, 2014 und 2022. Es dauerte bis letztes Jahr, bis der Staatliche Notdienst die riesigen Felder um Novomykolaivka entmint hatte und wieder nutzbar machte. In 20 Hektaren Land um die Siedlung stecken aber noch immer Anti-Panzer-Minen. Und der Krieg rückt schon wieder näher.

Moskaus Truppen haben das 100 Kilometer entfernte Wuhledar erobert, auch Pokrowsk etwa 70 Kilometer weiter südlich droht zu fallen. «Ja, wir haben grosse Angst, dass sie zum dritten Mal zu uns kommen», sagt Bauer Wjatscheslaw (53). Der Gedanke daran lässt ihn nervös die grossen, schwieligen Hände kneten.

«Dieses Mal werden wir evakuieren», sagt sein Kollege Wladimir (28). «Es macht keinen Sinn zu bleiben, wenn man weiss, was da kommt.» Er legt ein zwei Jahre altes Foto von seinem zerbombten Schweinestall auf den Tisch. «Wir liessen unsere 40 Tiere frei, damit sie eine Überlebenschance hatten. Wie viele es wirklich schafften, wissen wir nicht. Einige wurden von Soldaten gegessen.»

Der zerstörte Schweinestall von Wjatscheslaw kurz nach Kriegsausbruch 2022. «Wir liessen unsere 40 Tiere frei, damit sie eine Überlebenschance hatten», sagt er.

Der zerstörte Schweinestall von Wjatscheslaw kurz nach Kriegsausbruch 2022. «Wir liessen unsere 40 Tiere frei, damit sie eine Überlebenschance hatten», sagt er.

ZVG

«Die Tiere sind kleiner als normal»

Der unaufhörliche Raketenbeschuss zwischen April und August 2022 habe alle Kühe und Kälber getötet. Mittlerweile habe er nur noch eine Kuh und einige Schweine, sagt Wjatscheslaw. «Wir haben von vorne begonnen. Denn was will man machen, wir sind mit dieser Erde verbunden. Der Boden ist sehr fruchtbar hier. Deswegen wollen sie ihn uns wegnehmen.»

Der Krieg, mal weiter, mal näher, verändere die Natur, sagen die beiden Männer. «Die Tiere sind wegen des Stresses durch die Explosionen und anderen Kriegsgedonners kleiner als normal. Und die Schalen der Hühnereier sind dünner.» Es regne auch weniger und es gebe weniger Insekten. Wjatscheslaw und Wladimir sind sich uneins, ob das am Krieg oder am Klimawandel liegt.

Einig sind sie sich, dass die vielen Metallstücke und Schrapnellteile für den Boden nicht gesund sein können. Schätzungen zufolge haben Blindgänger, Minen und Trümmer mindestens 470'000 Hektaren der ukrainischen Agrarflächen verseucht.

Verwehte Spuren einer russischen Rakete über den Feldern von Novomykolaivka.

Verwehte Spuren einer russischen Rakete über den Feldern von Novomykolaivka.

20 Minuten/ Ann Guenter

Ukraine: Unheimliche Spuren am Himmel

Die Front ist Novomykolaivka tatsächlich schon wieder gefährlich nahe. Diesen August töteten russische Streubomben im sieben Kilometer entfernten Nachbardorf drei Frauen. Auf dem Rückweg aus der Siedlung verwehen im Himmel langsam die Zickzackspuren einer Rakete. Darunter lenkt Bauer Mykola (57) in Spuren seine Erntemaschine durch ein riesiges Sonnenblumenfeld.

Die Qualität der Kerne sei nicht so gut wie sonst, sie seien kleiner und weniger fleischig, sagt er. Auf die unheimlichen Spuren im Himmel angesprochen, meint er: «Was soll man tun? Ich hätte hier draussen und im Traktor keine Chance. Also bete ich und arbeite weiter.»

Ernte bei Raketenbeschuss: «Was soll man tun? Ich hätte hier draussen und im Traktor keine Chance.»

Ernte bei Raketenbeschuss: «Was soll man tun? Ich hätte hier draussen und im Traktor keine Chance.»

20 Minuten/ Ann Guenter

Behind the Scenes

Für diesen Bericht ist 20-Minuten-Auslandredaktorin Ann Guenter am 10. Oktober mit dem Nachtzug von Kyjiw für drei Tage nach Slowjansk gefahren. In dieser Stadt traf sie einen so genannten Fixer. Dieser ortskundige Einheimische stellte den Kontakt zu den Bauern in Novomykolaivka her und fungierte darüber hinaus als Fahrer und Übersetzer. Da es sich bei dem Besuch bei Zivilisten handelte, musste für diese Reise keine Genehmigung durch das ukrainische Militär eingeholt werden.

20 Minuten ist immer wieder für längere Aufenthalte in der Ukraine und berichtete bereits 2022 aus der Hauptstadt, als die ersten russischen Raketen fielen. Eine Berichterstattung aus Russland war von Anfang an unmöglich: Ann Guenter wurde bereits 2021 die Akkreditierung entzogen, als sie eine Strassenumfrage in der russisch besetzten Stadt Donetzk durchführen wollte. Angesichts der Verfolgung und Inhaftierung von russischen und internationalen Kollegen erschien eine Reise nach Russland seither schlicht als zu riskant. Aktuell wirft Russland 20 Minuten und anderen Medien «illegalen Grenzübertritt» vor. Dies, nachdem wir -  eingebettet mit dem ukrainischen Militär  - aus der russischen Region Kursk berichtet hatten, die seit Anfang August von der Ukraine besetzt ist.

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