Wenn die zurückgelassene Heimat vorbeizieht

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Evakuierungszug von PawlohradWenn die zurückgelassene Heimat vorbeizieht

Die «Ukrsalisnyzja», die ukrainische Eisenbahn, stellt Evakuierungszüge zur Verfügung. 20 Minuten ist in einem mitgefahren.

Zugbegleiterin Oxana (48): Seit 27 Jahren bei der ukrainischen Eisenbahngesellschaft.
52 Personen besteigen an diesem Tag den Evakuierungsszug in Pawlohrad.
Sie lassen ihr bisheriges Leben im Donbass zurück – aber möglichst nicht ihre Haustiere.
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Zugbegleiterin Oxana (48): Seit 27 Jahren bei der ukrainischen Eisenbahngesellschaft.

20 Minuten/ Ann Guenter

Darum gehts

  • Oxana, seit 27 Jahren Zugbegleiterin bei der ukrainischen Bahn, ist unermüdlich auf Evakuierungszügen im Einsatz.

  • Die Züge warten in Pawlohrad und fahren 16 Stunden bis nach Lwiw.

  • Ihor, der sein Leben lang in der Mine von Pokworsk gearbeitet hat, wollte eigentlich die Pensionierung und seinen Garten geniessen.

  • 20 Minuten hat sich mit ihm und seiner Frau Svetlana im Evakuierungszug unterhalten.

Wer bei der «Ukrsalisnyzja» arbeitet, gehört zur «eisernen Familie». Auf Oxana (48) trifft das allemal zu. Immerhin arbeitet sie bereits seit 27 Jahren bei der ukrainischen Eisenbahngesellschaft. Der Krieg in der Ukraine hat daran nichts geändert.

Seit russische Truppen auf die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk im Donbass marschieren, ist die Zugbegleiterin ununterbrochen im Evakuierungszug im Einsatz. Solange sie sich draussen auf dem Perron aufhält, tragen sie und ihre Kollegen eine Schutzweste, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellt.

16 Stunden und zurück

Oxana ist müde, aber guter Dinge: «Ich schlafe seit sechs Tagen ununterbrochen im Zug, esse im Zug, wechsle die Kleidung im Zug», sagt sie. «Wir fahren von Pawlohrad im Osten gut 16 Stunden bis nach Lwiw im Westen und dann wieder zurück.»

Anfangs waren alle Evakuierungswilligen noch vom Bahnhof in Pokrowsk im Oblast Donezk abgeholt worden. In Extrawaggons und ohne dass jemand ein Billett lösen muss. So war es schon zu Kriegsbeginn für einige Wochen üblich gewesen.

Farbige Bänder an Handgelenken

Mittlerweile ist der Krieg auf weniger als zehn Kilometer an die Bergbaustadt herangekommen. Deswegen hat man die Evakuierungen von dort ausgesetzt und ist auf den weiter westlich liegenden Bahnhof von Pawlohrad im Oblast Dnipropetrowsk ausgewichen. Es soll nicht noch einmal geschehen, was sich im April 2022 in Kramatorsk zutrug.

Damals starben bei einem gezielten russischen Angriff auf den Bahnhofsvorplatz 57 Zivilisten, die mit dem Zug fliehen wollten. Neben dem Massaker von Butscha und Umgebung gilt dieser Angriff als eines der frühesten Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine.

Jetzt versammeln sich die Leute mit Taschen und Koffern, Hunden und Katzen in Käfigen auf dem Perron. Sie hatten die Hotline angerufen, ihre Evakuierung beantragt und tragen nun blaue, rote und violette Plastikbänder an den Handgelenken. Eine pragmatische Lösung, wie sie die Ukrainer mögen: So wissen alle, in welchen der Evakuierungswaggons sie einsteigen müssen, um zu ihrem Ziel zu kommen, sei es Winnyzja, Kyjiw oder Lwiw ganz im Westen des Landes.

«Ukrsalisnyzja» kommt wichtige Rolle zu

Der Zug besteht aus mindestens zwanzig angehängten Wagen, eine Riesenschlange in Blau und Gelb, den ukrainischen Nationalfarben. Auf ihre Eisenbahn sind die Ukrainer stolz. Zu Recht. Allein in den ersten beiden Kriegsmonaten brachte die «Ukrsalisnyzja» etwa vier Millionen Menschen aus den östlichen in die westlichen Landesteile – das sind etwa zehn Prozent der ukrainischen Bevölkerung.

Bis heute ist die Eisenbahn von grosser Bedeutung für Hilfstransporte. Auch westliche Spitzenpolitiker, die zu Solidaritätsbesuchen nach Kiew reisen, nutzen sie. Dass die Züge selbst im Krieg meist auf wenige Minuten genau pünktlich sind, ist schlicht herausragend.

Die Sondereinheit der «Weissen Engel»

Die «Weissen Engel», eine Sondereinheit der Polizei, die Leute evakuiert und versorgt, sind zur Stelle und helfen, das ganze Gepäck in den Zug zu hieven. Dann setzte sich die riesige Zugschlange in Bewegung.

Es dauert etwas, bis alles in unter den Sitzbänken eingebauten Kästen verstaut ist. Die Bänke werden später zu einfachen Betten umfunktioniert, frische Leintücher und Kissenbezüge in zugeschweissten Plastiksäcken liegen schon bereit. In den Waggons ist es ruhig. Die meisten Menschen schauen aus dem Fenster und sehen ihre Heimat an sich vorbeiziehen, vielleicht zum letzten Mal.

Der Mineur und seine Frau

So wie Svetlana (59) und Ihor (67). Das Ehepaar lebt seit 44 Jahren beziehungsweise seit der Geburt in Pokrowsk. «Sie zerstören unsere Stadt, eine so gute Stadt», sagt Ihor. «Der östliche Stadtrand ist bereits komplett zerstört. Dabei war Pokrowsk noch vor noch 1,5 Monaten wie Las Vegas», sagt Ihor. «Es gab viel Arbeit in den Minen, Restaurants, viele Menschen. Jetzt gibt es kein Wasser, keine Elektrizität und nur noch Bomben.»

Sein Leben lang hat er in der Mine von Pokrowsk gearbeitet, jetzt ist er pensioniert und hat seinen Ruhestand geniessen wollen. Beide schwelgen schon jetzt in Erinnerung an ihren Garten mit den Tomaten, Kartoffeln und Rüebli. «Dieses Jahr wuchs alles so schnell – es ist so schade.» Als Ihor von den Hühnern spricht, die sie zurücklassen mussten, seufzt er so tief, dass es einem fast das Herz zerreisst.

«Eine Wahl ohne eine Wahl zu haben»

Ihr Ziel ist die Region Winnyzja im Westen, wo sie ein leerstehendes Haus eines Freundes beziehen können – «eine Wahl ohne eine Wahl zu haben», brummelt Ihor. Ihre Nachbarn seien geblieben, sagt Svetlana. Tränen steigen ihr in die Augen. «Sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können.» Ihr Mann fügt an: «Eigentlich sind wir obdachlos – und das in unserem Alter.»

Sie haben ihre Katze Muschka («Maus») dabei und einige Kleider, Fotos und Teller. Sollten sie mehr brauchen, vertrauen sie darauf, dass Hilfsorganisationen aushelfen werden. «Leben ist wichtiger als Besitz», sagt Ihor.

Das Gespräch kommt auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin und was er im ukrainischen Donbass wolle – die Rohstoffe? «Wer weiss, was er will», sagt Ohor. «Er tötet seine Leute, er tötet unsere Leute – und für was?» Er schweigt und fügt dann an: «Was braucht man denn zum Leben? Die Sonne scheint. Unser Land hatte alles. Wir verstehen nicht, wieso sie uns das antun.»

Süssigkeiten als grösste Sorge

Man merkt, dass er und seine Frau nicht wirklich über Politik sprechen wollen. Das gilt für viele hier. Die Donbasser sind ein spezieller Schlag von Leuten. Zäh, misstrauisch, ziemlich unfreundlich – aber nur am Anfang. Die Menschen von hier gelten als russlandfreundlich. In der Westukraine machen manche die Leute aus dem Donbass deswegen für den gesamten Krieg verantwortlich.

«Wir hoffen auf das Beste. Wir brauchen jetzt erst mal Ruhe. Die ewigen Bomben waren so ermüdend», sagt Svetlana. «Es gibt nicht nur schwarze, es gibt auch weisse Linien», sagt Ihor. Dass Tochter und Enkelin auf sie warten, hilft den Rentnern, optimistisch zu bleiben.

So sind es denn auch nicht das Wissen um das zerstörte Pokrowsk und das zurückgelassene Haus mit Garten und Hühnern, welche die zwei Senioren plagen, sondern, dass sie die vierjährige Enkeltochter enttäuschen könnten. «Sie sagte am Telefon, dass wir ihr Süssigkeiten mitbringen sollen», sagt Svetlana zu ihrem Mann. «Wo kriegen wir denn jetzt Süsses her? Wir müssen etwas kaufen, das geht doch so nicht.»

Nach Angaben der regionalen Militärverwaltung von Donezk sind noch etwa 25’000 Menschen in der Region Pokrowsk. Sie sollen möglichst alle evakuiert werden. Längst nicht alle machen mit.

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