Krieg in der Ukraine: Sanitäter holen Menschen aus Frontgebieten

Aktualisiert

UkraineSie holen Menschen aus den gefährlichsten Frontgebieten

Die Sanitäter Roman (30) und Roman (32) holen in der Ostukraine Zivilisten aus umkämpften Gebieten. 20 Minuten ist mitgefahren.

Ann Günther hat in der Ukraine zwei Sanitäter bei der Evakuierung von Zivilisten aus gefährlichen Gebieten begleitet.

20 Minuten/ Ann Guenter

Darum gehts

  • Roman (30) und sein gleichnamiger Kollege (32) evakuieren Zivilisten aus gefährlichen Gebieten.

  • 20 Minuten hat sie bei einem Einsatz in Myrnohrad bei Pokrowsk begleitet.

  • Nicht alle wollen abgeholt werden, obwohl die Bomben immer näher fallen und es weder Wasser noch Strom gibt.

  • Das frustriert die Sanitäter, die oft ihr Leben riskieren.

  • Millionen Ukrainer mussten seit Kriegsausbruch ihr Daheim verlassen: Derzeit sind etwa 3,6 Millionen auf der Flucht im eigenen Land.

Der Kohl muss mit. Darauf besteht die alte Frau. Es hilft kein Diskutieren, und da das Gemüse in der Ambulanz keinen Platz einnimmt, kommt Roman (30) dem Wunsch nach und packt es obendrauf in eine der vier Taschen, die Lidia in der Wohnung bereitgestellt hat. Die 87-Jährige ist überzeugt, dass die Kohlblätter bei ihren Knieproblemen helfen, wenn sie diese auf das Gelenk legt.

Es donnert dumpf und mächtig – Kawumm –, die Fenster klirren. Noch ist der Einschlag einige Kilometer entfernt. Mit einer Engelsgeduld warten Roman und sein gleichnamiger Kollege (32), bis sich Lidia fertig angezogen hat. Auch ihr Sohn Mikolai (51) ist noch nicht bereit, er zieht sich ungelenk an, seine Hände zittern beim Zuknöpfen des Hemdes.

Man merkt, beide verlassen ihr Zuhause eher widerwillig. Doch es muss sein. Es gibt in Myrnohrad, einem Ort nordöstlich von Pokrowsk, mittlerweile weder Wasser noch Elektrizität, und die russischen Truppen kommen näher.

Auf dem Weg nach Pokrowsk: ein ukrainischer MI24-Kampfhelikopter im Tiefflug.

Auf dem Weg nach Pokrowsk: ein ukrainischer MI24-Kampfhelikopter im Tiefflug.

20 Minuten/ Ann Guenter

Evakuierung in der Ukraine: Liste mit drei Adressen

Die zwei Romans sind Sanitäter, die Zivilisten aus Kampfgebieten holen. Auf dem Weg zum Treffpunkt mit ihnen beginnt der Tag spektakulär: Zwei ukrainische MI24-Kampfhelikopter fliegen fast zum Greifen tief und verschwinden so rasch aus dem Blickfeld, wie sie aufgetaucht sind. Sie rufen ins Gedächtnis, wie nahe das Monster «Krieg» ist. Auf der Fahrt von Dnjpro Richtung Pokrowsk hätte man das fast vergessen können, weil ländliche Idylle vorbeizieht mit Sonnenblumenfeldern und Babuschkas, die am Strassenrand ihr Gemüse verkaufen.

Lidia und ihr Sohn Mikolai sind die ersten auf der Evakuierungsliste, die Roman und Roman dabei haben. Weiter ist darauf vermerkt: «Maria (89), kann nicht laufen, ohne Verwandte, eine Hilfsorganisation kümmert sich in der Westukraine um eine Bleibe». Und: «Alexandra (83), mit eingeschränkter Mobilität nach einem Sturz, Enkel Anton wird vor Ort sein, folgt später im eigenen Wagen.»

Bei der Diskussion um den Kohl (auf der Ablage im Hintergrund) setzte sich Lidia durch.

Bei der Diskussion um den Kohl (auf der Ablage im Hintergrund) setzte sich Lidia durch.

20 Minuten/ Ann Guenter

«Sind wirklich alle Fenster und Türen zu?»

Beide Romans tragen Schutzweste und Helm, ihre Ambulanz stammt aus Deutschland und ist voller Erste-Hilfe-Utensilien. Sie nehmen sich viel Zeit, bis jeder im knallgelben Fahrzeug sitzt, doch dann geben sie Vollgas. Hinten klammert sich alle fest und schweigen. «Wir hatten Glück», ruft der jüngere Roman nach hinten. «Wir wurden soeben informiert, dass zehn Minuten nach diesem ersten Stopp eine KAB eingeschlagen hat.»

Lidia scheint das nicht ganz verstanden zu haben. Sie macht sich Sorgen, ob im Haus wirklich alle Türen und Fenster geschlossen wurden. Ihr Sohn sagt: «Ich habe einen Krater von einer Gleitbombe gesehen. Kein Keller kann dich retten.»

Der zweite Stopp. Während Roman und Roman die 89-jährige Maria holen, kommt Lidia ins Plaudern. «Ich wurde in einer Kolchose in Myrnohrad geboren, mein Leben lang wohnte ich hier. Doch jetzt geht es nach Kryvyi Rih. Denn hier gibt es kein Wasser und keinen Strom mehr, der Geldautomat funktioniert nicht, nur ein paar Geschäfte sind noch offen.» Viele seien geflohen. «Als mein Sohn heute in den Laden gegangen ist, 700 Meter entfernt, hat er niemanden mehr getroffen.»

Bei den Evakuierungen aus Pokrowsk und Umgebung ist auch ein Schweizer Fahrzeug im Einsatz.

Bei den Evakuierungen aus Pokrowsk und Umgebung ist auch ein Schweizer Fahrzeug im Einsatz.

20 Minuten/ Ann Guenter

Auch umfunktioniertes Postauto im Einsatz

Die beiden Sanitäter tragen die 89-Jährige aus dem Haus und legen sie auf eine Bahre. Im Krankenwagen gibt ihr der ältere Roman eine Tablette und flösst ihr Wasser ein – mit einer Sanftheit, die in der brutalen Kriegswirklichkeit umso anrührender wirkt.

Es geht weiter, auch Alexandra wird abgeholt, alles verläuft problemlos. Die älteste, Maria, wirkt erschöpft, wie sie da auf der Bahre liegt, die zwei anderen Frauen sprechen miteinander, übertönt vom lauten Ambulanz-Motor.

Nach den drei Evakuierungen fahren die beiden Sanitäter an einen Versammlungsplatz ausserhalb von Pokrowsk. Hier warten sie auf weitere Ambulanzen – darunter auch ein umfunktionierter Postautobus aus der Schweiz –, bevor es weitergeht an sicherere Orte.

In Myrnohrad sind bereits Bombeneinschläge zu hören – doch Roman und Roman legen eine grosse Ruhe an den Tag.

In Myrnohrad sind bereits Bombeneinschläge zu hören – doch Roman und Roman legen eine grosse Ruhe an den Tag.

20 Minuten/Ann Guenter

«Wir flogen förmlich»

«Wir arbeiten für SOS East», erzählt Roman in dieser Wartezeit. «Ich seit 2022, mein Kollege seit 2014. Die Hilfsorganisation hat insgesamt schon über 90’000 Personen aus Frontgebieten geholt, vor allem im Osten.» Auch er und sein Kollege hätten schon mehrere Hundert Personen aus gefährlichen Orten evakuiert.

Der gefährlichste Einsatz der beiden Sanitäter war diesen Frühling in der Region Cherson: «Zivilisten waren eingeschlossen, der Checkpoint vor dem Dorf wurde beschossen. Ich fragte Roman, was wir tun sollten, und der meinte nur: ‹Da müssen wir durch›. Wir flogen förmlich, während um uns alles explodierte. Aber wir schafften es und konnten die Leute holen.» Er lacht jetzt, als er sich erinnert: «Die Soldaten, die uns auf dem Rückweg begegneten, sagten uns, dass sie uns abgeschrieben hätten. Diesen Tag vergesse ich nie.»

Nicht alle wollen evakuiert werden

Nicht alle Zivilisten wollen evakuiert werden. «Oft verständigen uns Angehörige, dass wir ihre Verwandten holen sollten, doch wenn wir ankommen, weigern sich diese, mitzukommen.»

Das sei sehr unangenehm. «Denn wir setzen oft unser Leben aufs Spiel, um zu ihnen zu gelangen. Zwingen können wir niemanden. Aber wir wissen, was passieren kann, wenn sie bleiben», sagt Roman. «In Nowohrodiwka etwa wurden Zivilisten erschossen, obwohl sie mit hochgestreckten Armen und weisser Flagge aus den Häusern kamen.»

An diese Evakuierung erinnern sich die beiden Romans gut: Vier Personen und 28 Katzen warteten auf sie.

An diese Evakuierung erinnern sich die beiden Romans gut: Vier Personen und 28 Katzen warteten auf sie.

Hilfsorganisation SOS East

«Die meisten sind vernünftig»

Die Menschen müssen ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen. Sie wissen nicht, ob sie ihr Zuhause je wieder sehen. «Die meisten bringen nur das Nötigste wie Kleider oder Fotografien», so Roman, der sich aber auch an eine Evakuierung erinnert, als vier Personen auf sie warteten – mit 28 Katzen.

«Die meisten sind vernünftig. Wie etwa dieser Maler. Er hatte seine zwei Hunde und eine Katze dabei sowie zwölf seiner Bilder, Pinsel und seine Farben. Er meinte, das sei alles, was er zum Leben brauche.»

3,6 Millionen Flüchtlinge im Land

Derzeit (Stand September 2024) sind in der Ukraine schätzungsweise 3,6 Millionen Menschen auf der Flucht. Über 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine haben Zuflucht im Ausland gefunden – wobei davon rund sechs Millionen Menschen mittlerweile in europäischen Staaten als Flüchtlinge leben. «Da es innerhalb des Schengen-Raumes jedoch nur wenige Grenzkontrollen gibt, bleibt es schwierig, genaue Zahlen zu ermitteln», schreibt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Denn viele Menschen gehen auch immer wieder in die Ukraine zurück, wenn ihre Heimatregionen als sicher gemeldet werden. Hilfsorganisationen sprechen in dem Zusammenhang von «Pendelbewegungen».

Der seit 2014 im Osten der Ukraine schwelende Konflikt eskalierte im Februar 2022 mit dem russischen Angriff auf das Land. Die Invasion führte zwischenzeitlich dazu, dass ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht war. Damit wurde die Ukraine gemäss UNHCR «zum Schauplatz der grössten Vertreibungskrise der Welt».

Folgst du schon 20 Minuten auf Whatsapp?

Eine Newsübersicht am Morgen und zum Feierabend, überraschende Storys und Breaking News: Abonniere den Whatsapp-Kanal von 20 Minuten und du bekommst regelmässige Updates mit unseren besten Storys direkt auf dein Handy.

Deine Meinung zählt

26 Kommentare
Kommentarfunktion geschlossen