Gazastreifen: «Evakuation ist fast unmöglich»

Aktualisiert

Gazastreifen«Eine Million Menschen über eine Strasse evakuieren – fast unmöglich»

Wäre der Kanton Genf so dicht bebaut wie der Kanton Basel-Stadt, hätte man in etwa den Gazastreifen. Dort sollen jetzt eine Million Menschen in einen anderen Teil umgesiedelt werden – über eine einzige Strasse.

Israel hat als Vergeltung für die Angriffe der Hamas die sofortige Evakuierung von 1,1 Millionen Menschen im Gazastreifen gefordert.
Palästinenser fliehen mit ihren Habseligkeiten nach israelischen Luftangriffen am 13. Oktober 2023 in vermeintlich sicherere Gebiete in Gaza-Stadt. 
«Das ist Chaos, niemand versteht, was zu tun ist», sagte Inas Hamdan, eine Mitarbeiterin des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im Gazastreifen, am Freitagmorgen.
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Israel hat als Vergeltung für die Angriffe der Hamas die sofortige Evakuierung von 1,1 Millionen Menschen im Gazastreifen gefordert.

AFP

Darum gehts

  • Israel hat über eine Million Menschen aufgefordert, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen und in den Süden zu gehen. 

  • Das ist laut Jean-Marc Rickli vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik so gut wie unmöglich. 

  • Und selbst wenn es gelänge, seien die Menschen akut bedroht. 

  • Ärzte ohne Grenzen berichtet derweil von Panik und Angriffen auf medizinische Einrichtungen. 

Israel hat die Evakuierung von über einer Million Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen angeordnet. Das ist schier unvorstellbar. Jean-Marc Rickli vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik macht einen Vergleich: «Der Gazastreifen ist etwas grösser als der Kanton Genf, aber die Bevölkerungsdichte ist höher als jene im Kanton Basel-Stadt. Es ist also so, als wollte man eine Million Menschen innerhalb von 24 Stunden von einem Teil des Kantons Genf in den anderen verlagern, und das bei einer Dichte, die höher ist als im Kanton Basel-Stadt. Und das alles über eine einzige Strasse, denn es gibt nur eine.»

Was sich so anhört, wird auch vom Experten als «in der Tat sehr anspruchsvoll, wenn nicht gar unmöglich», beziffert. Dazu kommt die Frage, ob die Menschen überhaupt gehen wollen – und ob die Hamas sie gehen lässt. Tatsächlich fordern die Hamas-Terroristen die Zivilbevölkerung bereits auf, der israelischen Evakuierungsaufforderung nicht nachzukommen, in ihren Häusern zu bleiben und den Gazastreifen nicht zu verlassen.

«Angriffe konzentrieren sich auf den Norden»

Was den Zweck der Evakuierung betrifft, gibt es laut Rickli nur ein operatives Ziel: «Einen Schock bei der Bevölkerung auszulösen und den nördlichen Teil des Gazastreifens, insbesondere Gaza City, von Zivilisten zu befreien, um militärische Operationen zu erleichtern.» Die israelischen Streitkräfte seien überzeugt, dass sich die meisten Hamas-Anführer im nördlichen Teil des Gazastreifens und vor allem in Gaza Stadt aufhielten. «Dort wurden bisher auch die meisten israelischen Angriffe durchgeführt.»

Es gebe aber auch ein humanitäres Argument: «Nämlich zivile Opfer zu vermeiden, indem sie in den Süden evakuiert werden», sagt Rickli. Doch selbst wenn das gelingen sollte und die Zivilisten nicht direkt von den israelischen Streitkräften angegriffen würden, seien sie dadurch nicht in Sicherheit: «Ihr Überleben im Süden ist trotzdem gefährdet. Die Bevölkerungsdichte im Gazastreifen ist bereits jetzt eine der höchsten der Welt. Es würden noch mehr Menschen auf ein kleineres Gebiet zusammengepfercht, ohne Strom und zunehmend ohne Lebensmittel und Wasser.»

Ein weiteres Ziel einer Evakuierung der Zivilbevölkerung in den Süden könnte laut Rickli darin bestehen, Druck auf Ägypten auszuüben, damit es «seine Grenzen öffnet und die Palästinenserinnen und Palästinenser ägyptischen Boden betreten können».

Ganze Häuserblöcke des wohlhabendsten Viertels von Gaza-Stadt, Rimal wurden zusammengebombt.

20min

«In Gaza herrscht allgemeine Panik»

Von prekären Zuständen in Gaza berichtet auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen. In ihrem Update vom Mittwoch schreibt Léo Cans, Einsatzleiter vor Ort: «Die Lage in Gaza ist katastrophal. Die Spitäler des Gazastreifens sind mit dem unablässigen Zustrom von Verletzten komplett überfordert.» Es herrsche allgemeine Panik, Menschen seien mitten in der Nacht per SMS darüber informiert worden, dass sie ihre Häuser verlassen müssten. «Für sie bedeutet das, die Kinder aus dem Schlaf zu reissen, um sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Zeit, um ihre Sachen mitzunehmen, bleibt ihnen nicht.»

Schon am Mittwoch seien 200’000 Palästinenser und Palästinenserinnen auf der Flucht gewesen. «Sie haben weder Wasser oder einen Ort, um sich zu waschen, noch Essen, Matratzen oder Schlafzeug.» Auch medizinische Einrichtungen würden von den Angriffen nicht verschont, ein Spital sei aus der Luft angegriffen und beschädigt worden. «Das Ausmass der Gewalt und die Schärfe der Bombardements sind schockierend, ganz zu schweigen von der hohen Anzahl der Toten bisher», schreibt Cans.

Seit den breit angelegten Angriffen der Hamas-Terroristen starben in Israel mindestens 1300 Menschen, 300 wurden verletzt. Auf der palästinensischen Seite forderten die Gegenschläge der israelischen Luftwaffe mindestens 1537 Menschenleben, 6612 wurden verletzt. 

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