Europa-DebatteGeht es der Schweiz so gut, wie Christoph Blocher behauptet?
Die Schweizer Europapolitik steht still. Das sei kein Problem, sagt Blocher, denn der Schweiz gehe es bestens. Doch einige Branchen sehen das anders.
Alt-Bundesrat Christoph Blocher (SVP) diskutierte am Dienstagabend auf Einladung von 20 Minuten mit dem Kantonsratskandidaten Nicola Forster (GLP) über das Verhältnis Schweiz – Europa.
20minDarum gehts
Seit der Bundesrat die Verhandlungen zum Rahmenabkommen abgebrochen hat, steht die EU-Politik still.
Der Prozess dauere tatsächlich etwas gar lange, sagte Europarechts-Professorin Christa Tobler am 20-Minuten-Podium vom Dienstagabend.
Christoph Blocher hingegen fragte: «Wo ist denn das Problem?» Es laufe ja bestens für die Schweiz.
Doch einige Institutionen und Branchen leiden unter den eingefrorenen bilateralen Beziehungen.
Wirtschaftsvertreter glauben, dass die Schweiz langfristig an Attraktivität verlieren wird.
«Wo ist denn das Problem?», fragte Alt-Bundesrat Christoph Blocher an der EU-Debatte, die 20 Minuten live übertragen hatte. Der Schweiz gehe es gut, das Fehlen eines Rahmenabkommens sei deshalb nicht zu beklagen.
Wirtschaftsvertreter sehen es anders, denn einige Branchen und Institutionen haben Probleme. Das sind die wichtigsten:
Bildung: Die EU hat die Schweiz aus ihrem Forschungsprogramm Horizon Europe ausgeschlossen. Damit haben Schweizer Universitäten, Fachhochschulen und Unternehmen höhere Hürden, um an Projekten teilnehmen zu können. Und die Schweiz bekommt keine Forschungsgelder mehr. Finanziell ist es ein Nullsummenspiel, weil der Bundesrat das Geld, das die Schweiz als Beitrag an Horizon gezahlt hatte, nun im Inland verteilt. Dennoch sei der Ausschluss einschneidend, sagt Patrick Dümmler von Avenir Suisse. Schweizer Hochschulen hätten Mühe, die besten Köpfe unter den Professoren anzuheuern, weil sie aus der Schweiz heraus nun weniger gut netzwerken und sich international messen können.
Was das in Zahlen bedeutet, sagt Corinne Feuz, Sprecherin der EPFL: 20 Prozent weniger Einladungen zu europäischen Konsortien im Vergleich zum Schnitt der letzten Jahre und 64 Prozent weniger Einladungen zu Marie-Curie-Netzwerken. «Zudem beobachten wir, dass unsere besten Forscher aktiv abgeworben werden von Universitäten in der EU. Sie machen ihnen Angebote und erwähnen den Vorteil, den sie in einem Horizon-angegliederten Land hätten.»

Zahlen von Avenir Suisse zu den Folgen der Stagnation zwischen Schweiz und EU.
Avenir SuisseMedizinaltechnik und Diagnostika: Medizinalprodukte wie künstliche Hüftgelenke, Implantate, aber auch Heftpflaster und Fiebermesser mussten früher nur einmal zertifiziert werden. Doch nun braucht es für in der Schweiz produzierte Güter eine zweite Zertifizierung durch eine EU-Stelle. Avenir Suisse schätzt die einmalig anfallenden Kosten auf 110 Millionen Franken für die ganze Branche und wiederkehrend auf 75 Millionen Franken pro Jahr. «Was man aber nicht in Zahlen sieht, ist, dass neue Produktionsstrassen heute in Ostdeutschland angesiedelt werden statt in der Schweiz», sagt Dümmler.
Maschinen: Dasselbe droht in der Maschinenindustrie. Die EU verabschiedet wohl noch dieses Jahr die neue Maschinenrichtlinie. Damit wird der Marktzugang für Schweizer Hersteller von potenziell gefährlichen Maschinen wie Motorsägen erschwert. Die Maschinenbranche ist in absoluten Zahlen noch stärker betroffen als die Medizinaltechnik. Laut Swissmem hat die Branche 2021 für 39,1 Milliarden Franken in die EU exportiert. Die wiederkehrenden Zusatzkosten schätzt Avenir Suisse auf etwa 500 Millionen Franken pro Jahr.

Streitgespräch zwischen Christoph Blocher und Nicola Forster (links) am Dienstag, 31. Januar in Zürich.
20min/Taddeo CerlettiStrom: Die EU fordert zwei Dinge von der Schweiz für ein neues Stromabkommen. Erstens: Ein institutionelles Rahmenabkommen. Zweitens: Die Liberalisierung des Schweizer Strommarktes. Beides ist in weiter Ferne. «Vielleicht braucht es in der Schweiz einen längeren Stromunterbruch, bis wir erwachen», sagt Patrick Dümmler. Wir müssten erst frieren, um den Ernst der Lage zu erkennen. 2025 bekämen wir Probleme, weil Drittstaaten wie die Schweiz dann weniger Strom aus der EU importieren können.
Wie weiter? Patrick Dümmler spricht von einer «Erosion» der bilateralen Beziehungen. «Sie bröckeln», sagt auch Monika Rühl von Economiesuisse. Vielleicht in fünf oder zehn Jahren würden wir die Einbussen an Standortattraktivität schmerzhaft spüren, sagt Rühl. Dümmler schätzt die Folgekosten für die Schweiz auf einige Milliarden Franken für die nächsten Jahre.
Die Position der SVP: Thomas Aeschi, Nationalrat und Fraktionschef der SVP, will kein Rahmenabkommen «zum Preis der Unterwerfung unter EU-Recht». Zudem hätten auch Deutschland und Frankreich zu wenig Strom. «Die Schweiz muss, wie von Bundesrat Albert Rösti vorgeschlagen, die inländische Stromproduktion eigenständig erhöhen, weil wir uns nicht auf die Importe aus der EU verlassen können.»
Des Weiteren solle sich die Schweiz vermehrt an Grossbritannien, den USA und Asien orientieren, und zwar im Bereich Bildung und Forschung wie auch beim Güterexport. «Die Universitäten im angelsächsischen Raum sind die weltbesten.» Im Übrigen floriere das Geschäft bei der Medizinaltechnik wegen gestiegener Exporte, «Schweizer Medizinalfirmen sind so gut unterwegs wie schon lange nicht mehr», sagt Aeschi.
Ist der Stillstand bei den Bilateralen ein Problem?
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