Interview Guido SteinbergNeue Herrscher in Syrien – lassen sie unsere IS-Anhänger frei?
Tausende ausländische IS-Männer, ihre Frauen und Kinder sind in Nordsyrien interniert und inhaftiert. Wegen der neuen islamistischen Regierung hoffen sie nun auf Freiheit.
Darum gehts
In Nordostsyrien werden Tausende ausländische IS-Terroristen und ihre Angehörigen festgehalten. Darunter sind auch mehrere Schweizer.
Nun will die neue Regierung in Damaskus die Kontrolle über sie.
«Dass IS-Anhänger bald freikommen, halte ich durchaus für ein plausibles Szenario», sagt Guido Steinberg.
Der Nahostexperte im Interview über die Folgen.
Ein Besuch von 20 Minuten im Lager al-Hol bestätigte: Im Ausländer-Annex ist ein IS-Kalifat in klein und eine ganze Generation radikalisierter Kinder herangewachsen. 42 Regierungen aus aller Welt sahen dem während Jahren zu. Nun sind die Islamisten von «Hayat Tharir al Sham» (HTS) an der Macht. Sie wolllen die Internierungslager und Gefängnisse mit den IS-Dschihadisten und ihren Angehörigen übernehmen.
Ist das Nichtstun der Staaten zu rechtfertigen, Herr Steinberg?
Viele Länder waren insgesamt wohl froh darüber, dass sich gefährliche Dschihadisten mit ihren Frauen nach Syrien und Irak begeben hatten. Dieses Problem wollte nach dem Ende des IS niemand zurückholen, die zentralasiatischen und europäischen Staaten nicht, und auch nicht Russland und Kanada. Später veranlassten einige doch noch Rückführungen. Doch es ist bereits ein nicht zu vernachlässigendes Problem entstanden.
«Wir haben es mit dem grössten IS-Rekrutierungspool weltweit zu tun.»
Was heisst «nicht vernachlässigend»?
Bei den ausländischen IS-Kämpfern und ihren Angehörigen musste immer befürchtet werden, dass sie im instabilen Syrien wieder auf freien Fuss kommen. Aus der sicherheitspolitischen Perspektive war es ein Fehler der Heimatstaaten, sie nicht früh geholt und vor Gericht gestellt zu haben. Gleichzeitig leben in Lagern wie al-Hol Zehntausende syrische und irakische IS-Anhänger. Selbst wenn alle Ausländer und ihre Angehörigen zurückgenommen worden wären, hätte dies das Problem nur abgeschwächt, aber für die Region nicht aus der Welt geschafft.
«Viele der Frauen werden ziemlich sicher auf freien Fuss gesetzt.»
Was für Gefahren bringt das mit sich?
Bei den internierten IS-Frauen und ihren Kindern ist das Problem perspektivisch: Da wird eine neue Generation von Dschihadisten herangezogen. Und bei den IS-Kämpfern muss klar sein: Wir haben es mit 9000 Männern, davon etwa 2000 Ausländern, in über 20 syrisch-kurdischen Gefängnissen und Haftzentren zu tun – dem grössten Rekrutierungspool für den IS weltweit. Einmal freigelassen, dürften sie Schaden vor allem in Syrien und in der Türkei anrichten. Auch wir spüren die Folgen, wenn Menschen der Region auch vor dieser Gewalt fliehen.
«Die HTS nimmt offensichtlich weibliche Terroristen nicht ernst.»
Hoffen die internierten IS-Frauen zu Recht auf ihre Freiheit?
Wenn HTS die Kontrolle über die Lager übernimmt, werden viele von ihnen ziemlich sicher auf freien Fuss gesetzt und vielleicht vor die Wahl gestellt, ob sie in die nahe Türkei gehen oder in Syrien bleiben wollen. Selbst wenn einige weiter inhaftiert blieben – ihnen werden von der HTS mehr Sympathien entgegengebracht als von den Kurden. Denn die weltanschaulichen Grundlagen sind ja bei HTS und beim IS ursprünglich identisch.
Aber IS und HTS bekriegten sich doch?
Dennoch müssen die IS-Frauen von HTS nicht viel befürchten. In Idlib können sich IS-Anhängerinnen frei bewegen und bleiben unbehelligt, solange sie nicht allzu offen Propaganda für den IS betreiben. Und selbst dann ist es nicht so dramatisch – auch, weil der HTS offensichtlich weibliche Terroristen nicht ernst nimmt.
«Auch die Kurden haben ein Interesse daran, die IS-Gefangenen loszuwerden.»
Könnten auch die IS-Männer bald frei kommen?
In HTS-kontrollierten Gefängnissen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall, dass diese Leute teils freikommen. Es ist auch durchaus denkbar, dass die Kurden die Gefangenen oder zumindest einen Teil von ihnen gerne an die HTS weiterreichen. Auch die Kurden haben ein Interesse daran, die IS-Gefangenen loszuwerden. Mit der HTS, die angekündigt hat, die Gefängnisse zu übernehmen, besteht hier eine viel höhere Interessenkongruenz als etwa bei der Frage nach einem gemeinsamen Militär. Dass IS-Anhänger bald freikommen, halte ich durchaus für ein plausibles Szenario.
Auch solche, von denen man nicht will, dass sie frei kommen?
Ja. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige IS-Kämpfer das Angebot bekommen, für HTS zu arbeiten. Immerhin hat HTS ein grosses Personalproblem. Das dürfte aber nicht alle Gefangenen betreffen, HTS wird sehr vorsichtig sein, weil es sich um ehemalige Feinde handelt. Aber Feinde auf einer ideologisch sehr ähnlichen Wellenlänge.
Die IS-Schweizer in Syrien
Daniel D.: Schweizerisch-spanischer Doppelbürger aus Genf.
Mit 21 Jahren zog er 2015 zum IS nach Syrien.
Kampfname Abu Ilias al-Swissri. Geheimdienst halten ihn für den «gefährlichsten Dschihadisten» der Schweiz.
Auf einer Interpol-Liste potenzieller Attentäter gegen westliche Ziele.
Verbindung zu anderen Schweizer IS-Mitgliedern.
Beklagt Folter in kurdischer Haft, was die kurdischen Behörden dementieren.
Ersuchte die Schweiz um konsularischen Schutz, was das EDA ablehnte.
Das Bundesgericht verpflichtete das EDA nun, den Fall neu zu prüfen.
Mit 22 Jahren reiste er 2015 mit seiner Frau Selina* zum IS nach Syrien.
Sie ist heute mit einer gemeinsamen Tochter im Lager Roj interniert.
Kampfname Abu Wael al-Swissri.
Kämpfte in Syrien und Irak, vermutlich in der gleichen Einheit wie Daniel. D.
Verbindung zu anderen Schweizer IS-Mitgliedern.
Damien G.: Aus Orbe, VS.
Genaues Abreisejahr unklar, kennt Daniel D. seit Syrien.
Auch ihn halten die Schweizer Behörden für gefährlich.
Verbindung zu anderen Schweizer IS-Mitgliedern wegen Anschlagsplänen.
Bekannt wegen Tweet mit Sprengstoffgürtel und Schweizer Pass.
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