Lager al-Hol, Syrien: Hasserfüllte Kindergesichter: Der IS-Nachwuchs aus Sektor 6

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Lager al-Hol, SyrienHasserfüllte Kindergesichter: Der IS-Nachwuchs aus Sektor 6

Das nordsyrische Internierungslager al-Hol gilt schon lange als Zeitbombe. Ein Besuch zeigt: Seit der HTS-Machtübernahme ist das Ticken unüberhörbar geworden.

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«Französinnen, Russinnen und Uigurinnen am Brutalsten»: Im Sektor 6 des Lagers al-Hol sind 6300 IS-Angehörige aus 42 Ländern interniert.
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Späher rennen los, um das Alarmsystem im Ausländerannex zu aktivieren und vor dem 20-Minuten-Besuch zu warnen.
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«Wir erlauben die Vollverschleierung, um Aufstände zu verhindern», sagt Lagerleiterin Jihan Hanan (Bild: al-Hol 2019).
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«Französinnen, Russinnen und Uigurinnen am Brutalsten»: Im Sektor 6 des Lagers al-Hol sind 6300 IS-Angehörige aus 42 Ländern interniert.

20Minuten/Ann Guenter

Darum gehts

  • Im nordsyrischen Internierungslager al-Hol wohnen Frauen aus 42 Ländern.

  • Sie waren vor rund zehn Jahren zur Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) gereist.

  • Bis heute leben sie nach dessen Scharia-Gesetzen.

  • Eine neue Generation IS-Kinder ist herangewachsen.

  • Auf Geheiss ihrer Mütter sorgen Kaum-Teenager für Nachwuchs, vergewaltigen Minderjährige und töten Camp-Mitarbeitende.

  • Als die islamistische HTS die Macht in Damaskus übernahm, brach unter den Insassinnen Jubel aus.

Deng! Deng! Deng!, tönt es aus dem Meer von Zeltblachen in der nordsyrischen Wüste: Es ist das Alarmsystem, das die Insassen von Sektor 6 für ihr kleines «IS-Kalifat» längst installiert haben. Von Spähern alarmiert, schlagen sie mit Steinen und Stöcken gegen Kochtöpfe und Wellblech-Teile.

Vollverschleierte huschen mit abgewandten Köpfen ins Innere ihrer Behausung. Zunächst ist so kein Mensch zu sehen. Dann nähern sich aus allen Richtungen die Kinder, ohne Neugier oder Lächeln. Ein asiatisch aussehender Bub – keine fünf Jahre alt – antwortet auf die Frage nach seinem Namen auf Arabisch mit «Mein Name ist Scheisse».

Er hebt einen Stein auf, andere tun es ihm gleich. Die kleinen Gesichter glühen vor Abscheu. Die ersten Brocken kommen geflogen, überraschend kraftvoll geworfen. Rückzug. In die Flucht geschlagen von hasserfüllten Halbwüchsigen. Nur einige Hundert Meter, viel weiter kommt 20 Minuten zu Fuss nicht in den «Ausländer-Annex» von al-Hol.

«Mein Name ist Scheisse». Im 6. Sektor im Lager al-Hol sind die IS-Ausländer interniert: 6200 Kinder und Frauen aus 42 Nationen.

«Mein Name ist Scheisse». Im 6. Sektor im Lager al-Hol sind die IS-Ausländer interniert: 6200 Kinder und Frauen aus 42 Nationen.

20 Minuten/Ann Guenter
Schon kommen die Steine geflogen. Gewalt ist Alltag. Die Scharia-Gesetze der Terrorgruppe «Islamischer Staat» (IS) gelten hier.

Schon kommen die Steine geflogen. Gewalt ist Alltag. Die Scharia-Gesetze der Terrorgruppe «Islamischer Staat» (IS) gelten hier.

20 Minuten/ Ann Guenter

Das Camp im Nordosten Syriens ist eine eigentümliche Wüstenstadt nahe der irakischen und türkischen Grenze. Mit einer Einwohnerzahl wie der von Chur ist al-Hol sowohl Flüchtlings- als auch Internierungslager.

In den 90ern für irakische Flüchtlinge gebaut, wurde es 2016 für all die Familien wiedereröffnet, die vor der Gewalt der IS-Milizen flohen. Heute leben sie und die IS-Angehörigen auf wenigen Quadratkilometer nebeneinander, insgesamt 38'000 Menschen.

600 bewaffnete Wächter und Wächterinnen der «Syrischen Demokratischen Kräfte» (SDF) sichern das Areal mehr schlecht als recht. Die gestaffelte Umzäunung ist löchrig und stellenweise ganz eingerissen.

Zwölf getötete Aufseherinnen und Sicherheitsleute: «Früher hatten sie Messer, heute Handgranaten.»

Zwölf getötete Aufseherinnen und Sicherheitsleute: «Früher hatten sie Messer, heute Handgranaten.»

20 Minuten/ Ann Guenter
Seit dem 8. Dezember unternahmen die IS-Ausländerinnen laut Campverwaltung 40 Ausbruchsversuche: «Unruhe hat zugenommen.»

Seit dem 8. Dezember unternahmen die IS-Ausländerinnen laut Campverwaltung 40 Ausbruchsversuche: «Unruhe hat zugenommen.»

20 Minuten/Ann Guenter

6000 IS-Ausländerinnen und ihre Kinder

Im Sektor 6 – direkt im Visier eines Wachtturms mit Duschka-Gewehr – leben laut Lagerleitung über 6000 Frauen und Kinder aus 42 Nationen. Sie gehören zu IS-Kämpfern aus aller Welt, tot oder inhaftiert in Gefängnissen der kurdisch angeführten «Syrischen Demokratischen Kräfte» (SDF).

Seit acht Jahren leben die Frauen in al-Hol nach den Sitten wie im IS-Kalifat. Hier tragen auch dreijährige Mädchen Schleier. «Es gäbe Aufstände, würden wir die Vollverschleierung verbieten», sagt Lager-Leiterin Jihan Hanan.

«Viele begannen zu packen»

Als die islamistische «Hayat Tahrir al Sham» (HTS) vor vier Monaten in Syrien die Macht übernahm, herrschte unter den IS-Frauen Hochstimmung. «Viele begannen zu packen», so Hanan. «Sie sagten, sie würden bald an die Macht kommen.» Bald brannte der Markt von Sektor 6.

Mittlerweile hätten sich die Frauen beruhigt. Geblieben sind Gewaltbereitschaft und Unruhe: Hanan berichtet von 40 Ausbruchsversuchen seit dem 8. Dezember, von einer kurzen Geiselnahme eines NGO-Mitarbeiters durch einen Zwölfjährigen, von Angriffen und verletzten Mitarbeitenden. «Französinnen, Russinnen und Uigurinnen sind die brutalsten», so eine Wächterin.

«Früher hatten sie Messer, heute Handgranaten»

Für die Frauen und Kinder von al-Hol gehört Gewalt seit Jahren zum Alltag. Sie töteten bereits zwölf kurdische Aufseherinnen und Sicherheitsleute. «Im November fanden wir vier Handgranten in den Zelten. Früher hatten sie nur Messer», sagt Camp-Chefin Hanan.

«Würden wir die Vollverschleierung verbieten, gäbe es Aufstände.»

«Würden wir die Vollverschleierung verbieten, gäbe es Aufstände.»

20 Minuten/ Ann Guenter
«Beklagen sich die Mütter der Mädchen bei uns, werden sie von den anderen Frauen bestraft.»

«Beklagen sich die Mütter der Mädchen bei uns, werden sie von den anderen Frauen bestraft.»

20 Minuten/ Ann Guenter

Der Schmuggel lasse sich nicht unterbinden, dafür habe man keine Mittel, so Hanan, die selbst keine 100 US-Dollar im Monat verdient. Ebenso wenig liesse sich verhindern, dass die Kinder mit IS-Gedankengut indoktriniert werden – und im Camp für den Dschihadisten-Nachwuchs sorgen.

«Können Schwangerschaften nicht verhindern»

«Teenager schwängern ältere Frauen und vergewaltigen auf Geheiss ihrer Mütter junge Mädchen», berichtet Hanan. «Beklagen sich die Mütter der Mädchen bei uns, werden sie von den anderen Frauen bestraft.»

Auch deswegen kommen die Kinder der IS-Ausländerinnen ab zwölf Jahren möglichst in den beiden Deradikalisierungszentren in der Region unter. «Dennoch können wir Schwangerschaften nicht verhindern», sagt Hanan. «Erst im November fanden wir wieder ein Neugeborenes.»

«Seit dem 8. Dezember ist etwas in Bewegung geraten. Jetzt finden wir Molotowcocktails. Und alle bedecken wieder ihre Gesichter.»

«Seit dem 8. Dezember ist etwas in Bewegung geraten. Jetzt finden wir Molotowcocktails. Und alle bedecken wieder ihre Gesichter.»

20Minuten/Ann Guenter
«Die Grösseren trainieren die Kleineren. Sie lehren sie die Scharia-Regeln, halten Freitagsgebete ab und bauen Waffen aus Stöcken und Steinen.»

«Die Grösseren trainieren die Kleineren. Sie lehren sie die Scharia-Regeln, halten Freitagsgebete ab und bauen Waffen aus Stöcken und Steinen.»

20Minuten/ Ann Guenter

Die Erwartungen der Frauen, unter der neuen HTS-Regierung auf freien Fuss zu kommen, seien anhaltend hoch, sagt Hanan. Sie rechnet im «Mini-IS-Kalifat» nun jederzeit mit Aufständen und Massenausbrüchen. «Es braucht nur einen Funken.»

Stete Angriffsgefahr, eingestellte US-Hilfe

Brandherde gibt es genug. Die US-Regierung hat die Hilfe für die Versorgung von al-Hol gestrichen. Von der Türkei gestützte dschihadistische Milizen greifen das Lager regelmässig an.

Ein neues, als historisch gefeiertes Abkommen mit Damaskus sieht nun vor, dass die SDF ihre militärische und administrative Autonomie aufgeben. Die HTS-Regierung hat bereits zuvor gefordert, die Kontrolle über Lager wie al-Hol zu übernehmen. Die IS-Insassinnen dürften ihr Glück kaum fassen.

Als Gegenentwurf zu Lager al-Hol galt lange Camp Roj. Hier sitzt seit 2017 etwa die Schweizerin Selina* mit ihrer mittlerweile achtjährigen Tochter zusammen gut mit 800 weiteren Ausländerinnen aus 50 Nationen und über 1400 Kindern.

«IS-Wiedergeburt» im einstigen Vorzeige-Camp

Kleiner als al-Hol, war Roj zunächst nur für «gemässigtere» IS-Angehörige gedacht, kamen später noch IS-Frauen aus dem chronisch überfüllten al-Hol hinzu. Ein Fehler, wie das Gespräch mit einer der Verantwortlichen des Lagers nahelegt.

«Manche Frauen weigern sich, nach Hause zurückzukehren. Eine sagte, in Frankreich heirateten Männer Männer, so könne sie nicht leben».

«Manche Frauen weigern sich, nach Hause zurückzukehren. Eine sagte, in Frankreich heirateten Männer Männer, so könne sie nicht leben».

20 Minuten/ Ann Guenter
«Es gibt jetzt immer mehr Teenager. Die Folge: Wir finden immer wieder Neugeborene.»

«Es gibt jetzt immer mehr Teenager. Die Folge: Wir finden immer wieder Neugeborene.»

20 Minuten/Ann Guenter

«Wir sehen eine Wiedergeburt des IS», gesteht Hikmyah ein. «Auch hier tickt mittlerweile eine Zeitbombe». So würden die Frauen von Roj ihre Kinder nicht mehr in die Deradikalisierungskurse des Camps schicken, sondern abgeschottet in den Zelten selbst unterrichten.

Auch in Roj würde bestraft, wer gegen ein Scharia-Gesetz verstosse. Die Frauen würden Finger mit Steinen brechen. Hikmyahs Schilderungen erinnern immer stärker an die Zustände in al-Hol.

«Wir wissen, was wir mit euch machen»

Die Machtübernahme durch die islamistische HTS sei auch in Roj gefeiert worden, so Hikmyah. Die Insassen hätten an alle Schokolade verteilt. «Eine Französin sagte zu mir: ‹Bald sitzt du statt ich hier. Wir wissen, was wir mit euch machen›».

Was mit den Tausenden internierten IS-Kindern, ihren radikalen Müttern und den inhaftierten Männern geschehen wird, weiss niemand. Aber dass sie im aktuellen Syrien freikommen, erscheint naheliegender denn je.

Dass die HTS-Regierung in Damaskus die IS-Männer und ihre Angehörigen bald auf freien Fuss setzt, ist für NahostexpertenGuido Steinberg ein plausibles Szenario. Wir haben ihn nach den absehbaren Folgen gefragt. Hier ist das Interview.

Behind-the-Scenes

20 Minuten ist bereits mehrfach in den Nordosten Syriens gereist, um vom Krieg gegen den «Islamischen Staat» (IS) zu berichten. Nach dem Sturz von Baschar al-Assad und der Machtübernahme von Hayat Tharir al Sham (HTS) hat sich die Lage nicht nur für die Menschen im autonomen Kurdengebiet Rojava grundlegend geändert. Die volatile Situation wirkt sich auch auf die dortigen Internierungscamps und Gefängnisse aus, in denen ausländische IS-Angehörige sitzen. Um herauszufinden, was das bedeutet, ist Auslandsreporterin Ann Guenter im Februar über Erbil in Nordirak über den Grenzübergang Feshkhabour nach Qamishlo in Nordostsyrien gereist. Dort war sie gut zehn Tage unterwegs und berichtete als erste ausländische Journalistin vom umkämpften Tischrin-Damm. (gux)

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