Kulturelle NachhaltigkeitDarum ist der Erhalt des traditionellen Kunsthandwerks so wichtig
Traditionelles Kunsthandwerk zu bewahren, schützt nicht nur die Kultur, sondern auch Menschen und Umwelt. Ein Interview über kulturelle Nachhaltigkeit.
Darum gehts
Traditionelles Kunsthandwerk hat über die Jahre an Bedeutung verloren. Kunsthandwerkende weltweit stehen vor verschiedenen Herausforderungen.
Die Organisation «League of Artisans» will Kunsthandwerkende dabei unterstützen, zukunftsfähig zu bleiben. Dazu wurde mit Kunsthandwerkenden aus unterschiedlichen Kulturen ein Manifest erstellt.
Sol Marinucci erklärt im Interview, welche Bedeutung und welches Wissen Kunsthandwerkende in aller Welt haben. Und warum kulturelle Nachhaltigkeit einen wichtigen Faktor für eine nachhaltige Zukunft darstellt.
In Zeiten von Globalisierung und Industrialisierung scheint traditionelles Kunsthandwerk eine Sache aus vergangenen Zeiten zu sein. In der offiziellen Liste der lebendigen Schweizer Traditionen sind lediglich drei Kunsthandwerksarten aufgelistet.
Und Hand aufs Herz: Wann hat man zuletzt ein Keramik- oder Kleidungsstück gekauft, das traditionell hergestellt wurde? Auf Reisen vielleicht? In vielen Ländern der Welt wird traditionelles Kunsthandwerk nach wie vor praktiziert. Doch dass die Techniken weiterhin überleben, ist alles andere als selbstverständlich.
Sol Marinucci ist Co-Gründerin der internationalen NGO «League of Artisans», die sich für Kunsthandwerkende und deren Anliegen einsetzt.
Sol Marinucci, in Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich mit kultureller Nachhaltigkeit. Was ist damit gemeint?
Sol Marinucci: Die Projekte, in denen ich mitarbeite, haben zum Ziel, kulturelles Erbe – wie traditionelles Kunsthandwerk – sichtbar zu machen und zu bewahren, um ethische, transparente und für alle Seiten vorteilhafte Beziehungen und Praktiken zu fördern.
Inwiefern lässt sich kulturelle Nachhaltigkeit mit anderen Formen von Nachhaltigkeit verbinden? Etwa mit ökologischer Nachhaltigkeit?
Für mich gehören die unterschiedlichen Arten von Nachhaltigkeit zusammen. Wenn wir kulturelle Nachhaltigkeit fördern, in dem wir Kunsthandwerkende stärken, dann fördern wir automatisch auch die ökologische Nachhaltigkeit. Ein Beispiel: Die Aimara-Kultur spricht von der gegenseitigen Fürsorge zwischen Kunst und Natur. Elvira Espejo, die in unserem Buch «Artisans Voices» mitgewirkt hat, beschreibt, dass Textilkunst nicht nur das Material, sondern auch die Fürsorge für Tiere und die Erde umfasst. Die Schafe und Lamas haben Namen und werden mit viel Hingabe gepflegt. Kunsthandwerkende sind also nicht nur die Bewahrer dieser Techniken, sondern auch Bewahrer des Wissens über die Erde, die Natur, die Tiere.
Das bedeutet: Verschwindet das Kunsthandwerk, dann verschwindet auch sehr viel Wissen über die Natur.
Genau. Wenn ich von technologischen Innovationen höre, fasziniert mich deren Potenzial, aber gleichzeitig ist es wichtig zu erkennen, wie viel Weisheit in traditionellen Praktiken steckt im Zusammenleben und Umgang mit der Natur auf nachhaltige Art und Weise. Zum Beispiel die «Chaku»-Praktik zur Schur der Vikunja (Anm. d. Red.: verwandt mit dem Alpaka), die in einer spiralförmigen Struktur stattfindet, um die Tiere zu beruhigen. Diese Praktiken sind uralt und zeigen uns, wie Respekt und Fürsorge im Umgang mit Natur und Kultur aussehen können.
Ihr neues Projekt befasst sich mit der Schnittstelle zwischen Klimawandel und Kunsthandwerk – auf den Philippinen.
Wir entwickeln ein praxisorientiertes Toolkit für Textilkunsthandwerkende in katastrophengefährdeten Gebieten, das auf Erfahrungen vor Ort und aus anderen Gebieten der Welt basiert. Es soll kreative Massnahmen inspirieren, um Handwerksgemeinschaften beim Überwinden von durch den Klimawandel verursachten Katastrophen zu helfen.
Welche Herausforderungen stehen dem Überleben des Kunsthandwerks denn sonst noch im Weg?
In der heutigen Welt ist man es gewohnt, alles sofort zu bekommen. Aber Kunsthandwerk benötigt oft viel Zeit und Sorgfalt. Ohne die Anerkennung dessen kann es sein, dass die Nachfrage nach diesen Stücken stetig weiter sinkt. Das gilt für Zwischenhändler und für Endnutzer. Textilien werden zum Beispiel oft mit Pflanzen oder Früchten gefärbt, die jahreszeitenabhängig sind. Wenn jemand eine Bestellung aufgibt, muss man möglicherweise auf die nächste Ernte warten. Es ist wichtig, sich über diese Faktoren im Klaren zu sein.
Wird Kunsthandwerk noch immer von einer Generation an die nächste weitergegeben?
So ist es. Das ist jedoch eine grosse Herausforderung. Viele junge Leute zeigen wenig Interesse daran, das geerbte Handwerk ihrer Eltern und Grosseltern zu erlernen. Auch deshalb ist es wichtig, die Anerkennung und die strukturellen Bedingungen für das Kunsthandwerk zu verbessern.
Im Anschluss an die erwähnte Publikation «Artisans Voices» entstand ein Manifest. Weshalb?
Nachdem wir im Buch all diese Stimmen zusammengebracht hatten, war es uns wichtig, einen Aufruf zum Handeln zu schaffen und hervorzuheben, welche Rolle Kunsthandwerkende bei der Bewahrung des kulturellen Erbes und der Lösung aktueller Herausforderungen spielen. Es dauerte ein Jahr, bis wir das Manifest zusammen mit Kunsthandwerkenden aus Indien, Guatemala, Ecuador, Bolivien, Mexiko, Peru, Argentinien, dem Vereinigten Königreich, Sri Lanka und Ägypten realisiert hatten.
Die Lebensrealitäten in diesen Ländern sind sicherlich sehr unterschiedlich. Wo fanden Sie Gemeinsamkeiten?
Es gibt viele Unterschiede, aber auch reichlich Gemeinsamkeiten. Unabhängig von ihrer Kultur decken sich die Bitten nach fairem Umgang und Respekt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Thema ist die Unsicherheit, die viele Kunsthandwerkende über das Endziel ihrer Stücke haben. Oft wissen sie nicht, wer ihre Kreationen kauft oder wohin sie gehen, was ein tiefes Gefühl der Entfremdung erzeugen kann. Ein weiterer zentraler Aspekt in fast allen Gesprächen war das Problem des fairen Handels: Es besteht ein Mangel an Verständnis für die Zeit, das Können und den Aufwand, den ihre Arbeit erfordert. Entsprechend werden die Stücke oft für viel weniger verkauft, als sie wirklich wert sind. Oft auch, weil den Kunsthandwerkenden Marktinformationen fehlen.
Was kann man als Privatperson tun, wenn man dem Kunsthandwerk mit Respekt begegnen will?
Das Wichtigste ist, sich zu informieren und bewusste Entscheidungen zu treffen. Es geht nicht nur darum, Produkte zu erwerben, sondern auch darum, die Geschichte und die Menschen hinter den Produkten zu respektieren. Man sollte nachfragen, woher die Produkte kommen, wie sie hergestellt wurden und sicherstellen, dass die Menschen eine gerechte Entlohnung für ihre Arbeit erhalten. Unser Manifest zu lesen und zu verstehen kann ein guter erster Schritt sein.
Zum Schluss: Welchen Irrglauben über Kunsthandwerk möchten Sie gerne entkräften?
Kunsthandwerk ist nicht statisch, es entwickelt sich weiter und ist innovativ. Ein Beispiel dafür ist die Wichí-Gemeinschaft im Norden Argentiniens, die eine pflanzliche Faser, den «Chaguar», verwendet, deren Vorkommen jedoch aufgrund von Abholzung und Klimawandel abnimmt. Angesichts dieser Knappheit haben sie begonnen, ihre traditionellen Webtechniken mit Wolle oder recyceltem Material anzuwenden. Für mich ist dies eine intelligente Antwort auf den Schutz der «Chaguar»-Faser und zeigt tiefen Respekt für die Materialien, die aus der Natur verschwinden.
Sol Marinucci ist Textildesignerin, Kulturmanagerin, unabhängige Forscherin, Kuratorin, Beraterin und Mitbegründerin der «League of Artisans». Die Argentinierin arbeitet seit über 20 Jahren mit indigenen Handwerkergemeinschaften. Für das British Council leitete sie das Programm «Crafting Futures» in Argentinien, Bolivien und Südasien. Daraus resultierte die Publikation «Artisans' Voices», in der zahlreiche Kunsthandwerkende aus aller Welt zu Wort kommen. Sie ist Co-Gründerin der NGO «League of Artisans».
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