Sexualpädagogin: «Es kursiert sehr viel Falschwissen über Sexualität»

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Sexualpädagogin«Es kursiert sehr viel Falschwissen über Sexualität»

Politiker und der Dachverband üben scharfe Kritik am Sexualkundeunterricht der Schulen. Sexualpädagoginnen zeigen sich besorgt über die Entwicklung und fordern eine bessere Aufklärung.

Katja Hochstrasser, Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle Sexuelle Gesundheit Zürich (SeGZ), kennt die Situation in den Schulen. 
Eine Befragung von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern im Kanton Basel-Stadt zeigt, dass die Jugendlichen grosse Lücken haben, wenn es um Sexualkunde geht.
Offenbar machen viele Schulen hier ihren Job nur mangelhaft: Zwölf Prozent der Befragten geben an, keinen Sexualkundeunterricht bekommen zu haben.
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Katja Hochstrasser, Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle Sexuelle Gesundheit Zürich (SeGZ), kennt die Situation in den Schulen. 

Spiz

Über Social Media kommen Jugendliche heutzutage viel früher und einfacher in Kontakt mit Sexualität als noch vor einigen Jahren. Der Jugendgesundheitsbericht 2022 zeigt jetzt, dass grosse Lücken in der Aufklärung von Schülerinnen und Schülern vorhanden sind. Katja Hochstrasser, Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle Sexuelle Gesundheit Zürich (SeGZ), ordnet die aktuelle Situation ein.

Wie nehmen Sie den Sexualkundeunterricht heute in den Schulen wahr?

Ich erlebe sehr unterschiedliche Modelle: Es gibt sehr vorbildliche Gemeinden, die zusätzlichen Sexualkundeunterricht für die Schüler und Schülerinnen finanzieren. Und es gibt Schulen, in denen es sehr lehrerabhängig ist, ob Fachpersonen beigezogen werden oder nicht. Und es gibt Schulen, in denen gar nichts passiert.

Die Kinder und die jungen Menschen haben das Recht, dass ihre Fragen ehrlich und ohne Scham beantwortet werden.

Katja Hochstrasser, Sexualpädagogin

Was braucht es im Sexualkundeunterricht – und was nicht?

Es braucht vor allem Vertrauen: Die Kinder und die jungen Menschen haben das Recht, dass ihre Fragen ehrlich und ohne Scham beantwortet werden. Es braucht keine moralisierenden Aussagen, welche die jungen Menschen verunsichern. Im schlimmsten Fall holen sie sich dann keine Hilfe oder trauen sich nicht mehr, ihre Fragen zu stellen.

Wie wurdest du aufgeklärt?

Was bedeutet es für Jugendliche, wenn der Sexualkundeunterricht nicht oder nur sparsam stattfindet?

Junge Menschen holen sich ihr Wissen nebst der Schule von den sozialen Medien. Leider kursiert im Netz sehr viel Falschwissen. Dieses Falschwissen kommt sehr attraktiv daher und wird geteilt. Es ist also ein Teufelskreis, den wir nur durch attraktiven Sexualkundeunterricht in den Schulen durchbrechen können.

Was sind die Folgen, wenn Jugendliche weniger informiert sind?

Es findet keine Entwicklung statt. Neue und wichtige Erkenntnisse können nicht mit der Allgemeinbevölkerung geteilt werden. Ein Beispiel: Seit 2008 sind Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie nicht mehr ansteckend. Trotzdem werden Menschen mit HIV immer noch stigmatisiert und gerade von ärztlichem Fachpersonal oder in der Arbeitswelt stark diskriminiert.

Céline Olivier ist Sexologin und Mitglied der Swiss Society of Sexology

Wie reagieren Sie auf die Ergebnisse dieser Befragung?

Es ist sehr besorgniserregend und auch traurig, dass sich solches Unwissen heutzutage verbreitet, aber es wundert mich andererseits auch nicht. Für mich beweist diese Studie, dass Experten wie Sexualpädagogen verstärkt Lehrer unterstützen sollten, um sexuelle Bildung in Schulen zu fördern und zu professionalisieren.

Was ist der grundlegende Auftrag der Sexualkunde?
In erster Linie geht es um Prävention und sexuelle Gesundheit (Schutz vor unerwünschten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten) – aber noch um vieles mehr. Die Ziele sexueller Bildung sind es, den Jugendlichen ein altersgerechtes, aber umfassendes Verständnis für die eigene Sexualität zu vermitteln und Fähigkeiten zu entwickeln, um eine selbstbestimmte Sexualität und gesunde Beziehungen aufzubauen.

Heute werden Jugendliche viel früher sexualisiert – unter anderem auch über Social Media – wie sollten Schulen auf diese Entwicklung reagieren?
Es ist unsere Pflicht als Erwachsene, Lehrer und auch Fachperson der sexuellen Gesundheit, unsere Heranwachsenden zu befähigen, sich eine Meinung zu bilden und sich abzugrenzen. Wir müssen der «Normalität» in den sozialen Medien mit einer «Normalität» im Diskurs begegnen.

Wer sollte Ihrer Meinung nach die Zuständigkeit für die Aufklärung übernehmen – die Eltern oder die Schule?

Es braucht unbedingt alle Beteiligten. Die professionelle Sexualaufklärung bezieht sich auf drei Säulen: Eltern – Schule – Fachorganisationen/Beratung. Nur gemeinsam findet eine ganzheitliche Aufklärung statt.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine optimale Aufklärung aus?

Eine breite Aufklärung in verschiedenen Bereichen: von regelmässigen Sexualkundelektionen in allen Schulstufen bis hin zu Elternworkshops und sexualpädagogischen und sexologischen Beratungsstellen in jedem Spital oder in den Arztpraxen. Aufklärung hört nie auf. 

Hast du Fragen zu Beziehung, Liebe oder sexueller Gesundheit?

Hier findest du Hilfe:

Lilli.ch, Onlineberatung

Tschau, Onlineberatung

Feel-ok, Informationen für Jugendliche

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

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