Sexualstrafrecht: Andrea Caroni über «Nein heisst Nein»

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«Nein heisst Nein»«Die Alternative hätte fast jeden zum Vergewaltiger gemacht»

Ab dem 1. Juli 2024 gilt ein neues Sexualstrafrecht: Andrea Caroni erklärt die Einführung des Prinzips «Nein heisst Nein» und welche Konsequenzen dies hat.

Andrea Caroni, Ständerat (FDP) aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden, erläutert die Änderungen im Sexualstrafrecht.
Fortan werden sexuelle Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen der Person härter bestraft, auch wenn kein Zwang vorlag.
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Andrea Caroni, Ständerat (FDP) aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden, erläutert die Änderungen im Sexualstrafrecht.

Andrea Caroni

Darum gehts

  • Zukünftig werden sexuelle Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen einer Person, auch ohne Zwang, härter bestraft.

  • Das «Nein heisst Nein»-Modell bedeutet: Eine Straftat liegt vor, wenn das Opfer mit Worten, Gesten oder durch Erstarren ausgedrückt hat, dass es mit der Handlung nicht einverstanden ist.

  • Andrea Caroni kritisiert das «Ja heisst Ja»-Modell und betont die Praktikabilität des «Nein heisst Nein»-Modells.

  • Das neue Gesetz erkennt «Freezing» – eine Schockstarre – als eindeutiges Signal der Ablehnung an.

  • Hier erklärt ein forensischer Psychiater, warum es beim Sex so oft zu Missverständnissen kommt.

Andrea Caroni ist Anwalt, Ständerat aus Appenzell Ausserrhoden und Vizepräsident der Kommission für Rechtsfragen im Ständerat. Am 1.7. treten Änderungen im Strafrecht in Kraft. Im 20-Minuten-Interview erläutert Caroni die Änderungen.

Herr Caroni, was verändert sich zum 1. Juli 2024 im Sexualstrafrecht?

Der Grundsatz «Nein heisst Nein» wird mit Nachdruck eingeführt. Wer also wissentlich gegen den Willen einer Person – auch ohne Zwang - eine sexuelle Handlung vornimmt, kann neu wegen «sexuellen Übergriffs» oder sogar «Vergewaltigung» hart bestraft werden. Bislang galten sexuelle Handlungen ohne Zwang nur als «sexuelle Belästigung», was bloss eine Übertretung ist. Allfälliger Zwang wird aber weiterhin verschärfend berücksichtigt.

Das von vielen geforderte «Ja heisst Ja»-Modell gilt also nicht? Wie finden Sie das?

Ich bin froh, dass sich dieses Modell nicht durchgesetzt hat. Das von manchen geforderte «Ja heisst Ja»-Modell würde im Prinzip jeden, der Sex hat, juristisch potentiell zu einem Vergewaltiger machen. Es müsste ja jederzeit jeder sexuellen Handlung nachweislich zugestimmt werden, damit sie nicht strafbar ist. Wie soll man das in der Realität umsetzen? Man kann ja nicht verlangen, dass eine Frau während des Sex laufend auf eine Zustimmungs-App drückt und der Mann das auch noch kontrolliert.

Wie könnte denn eine Zustimmung beim «Ja heisst Ja»-Modell aussehen?

Bisweilen wird vorgeschlagen, dass man bei einem solchen Modell vor sexuellen Handlungen auf einem Formular bestätigt und unterschreibt, dass und mit welchen sexuellen Handlungen man einverstanden ist. Aber ein unterschriebenes Dokument wäre das Papier nicht wert, auf das es geschrieben wurde, denn schon eine Sekunde später kann und darf man es sich anders überlegen. Juristisch und gesellschaftlich praktikabler ist ganz offensichtlich das «Nein heisst Nein»-Modell. Es ist zumutbar und dient der Rechtssicherheit, wenn man seine Ablehnung irgendwie kundtut – das kann auch nonverbal geschehen, es braucht nicht einmal ein «Nein». Und wo auch das nicht geht, greift die «Freezing»-Bestimmung.

Würde sich die Beweislast beim «Ja heisst Ja»-Modell umkehren?

Die Befürworter und Befürworterinnen streiten es zwar ab, aber wenn man «Ja heisst Ja» ernst nimmt, kehrt man die Beweislast um: Ist der Sex bewiesen, aber das «Ja» nicht, ist man als Teilnehmer mit einem Fuss im Gefängnis. Wenn man doch dem Staat die Beweislast für das «Nein» auferlegt, ist man wieder beim «Nein ist Nein»-Modell.

Was bedeutet das Freezing, das im neuen Gesetz verankert werden soll und wie soll das von einem potenziellen Partner erkannt werden?

Mit Freezing ist eine Schockstarre gemeint, bei der die Person infolge der sexuellen Handlung wie gelähmt ist, also nicht einmal mehr «Nein» sagen kann. Wir haben im Gesetz klar ausgedrückt, dass Freezing als «Nein» gilt. Der Sexualpartner muss das allerdings – wie jede Ablehnung – erkennen können. Es kann ja jemand beim Sex auch einfach zustimmend passiv sein. Da wird das Gericht die konkreten Umstände würdigen müssen.

Bereits heute gibt es laut einiger Studien eine gewisse Anzahl an Beschuldigungen bei Sexualdelikten, die sich als unwahr herausstellen. Ist es möglich, dass dieses Phänomen durch die Reform zunehmen könnten?

Das ist möglich, da man neu für eine wirksame Anschuldigung keinen Zwang mehr geltend machen muss.

Andererseits soll es laut Studien auch eine hohe Dunkelzahl an nicht gemeldeten Sexualstraftaten geben, wie bewerten Sie das?

Ich bin dafür, dass man die Hürden zur Anzeige erfolgter Delikte senkt. Das geschieht allerdings weniger über das Strafgesetzbuch als über gut zugängliche Opferberatung, medizinische Unterstützung und Beweissicherung und eine empathische Polizei.

Wird auch in Zukunft der Grundsatz «In dubio pro reo» gelten, wenn schon heute Männer manchmal ohne objektive Beweise, auf Basis von Aussagen mutmasslicher Geschädigter und unsicheren Indizien verurteilt werden?

Die rechtliche Hürde für eine Verurteilung sinkt, da der Zwang nicht mehr unbedingt nachgewiesen werden muss. Die Unschuldsvermutung gilt aber für die verbleibenden Tatbestandsmerkmale, sexuelle Handlung gegen den Willen, weiterhin, allerdings auch die freie richterliche Beweiswürdigung.

Der forensische Psychiater Thomas Knecht ordnet ein, wieso Missverständnisse beim Sex so häufig sind und gibt Tipps, um diese zu vermeiden.

Ein junger Mann wird nach einer wilden Halloween-Party vom Kreisgericht St. Gallen wegen Vergewaltigung verurteilt. Das Opfer schreibt während der Begegnung noch, dass es ihr gut gehe. Sie hat bereits vormals schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht.

Wirst du oder wird jemand, den du kennst, sexuell belästigt?

Hier findest du Hilfe:

Belästigt.ch, Onlineberatung bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz

Verzeichnis von Anlaufstellen

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

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