Gutachter«Nicht jede sexuelle Begegnung wird zur Erfolgsstory»
Missverständnisse beim Sex sind häufig. Der forensische Psychiater Thomas Knecht spricht über die Ursachen und gibt Tipps, wie man diese vermeiden kann.
Darum gehts
Thomas Knecht ist forensischer Psychiater.
Männer und Frauen nehmen Sex unterschiedlich wahr, wobei Männer oft schneller sexuelle Interessen sehen und Frauen mehr Wert auf Beziehung legen, sagt er.
Die Erregungskurve verläuft bei Männern linearer, während sie bei Frauen auf und ab geht, was zu Missverständnissen führen kann.
Knechts Tipp: sich viel Zeit lassen, das Gegenüber im Auge behalten, bei Stimmungswechsel nachfragen, im Zweifelsfall eine Pause einlegen.
Hier erläutert der Ständerat und Anwalt Andrea Caroni das neue Sexualstrafrecht.
Thomas Knecht hat als Psychiater zahlreiche Gutachten zu Sexualdelikten erstellt. Im Interview mit 20 Minuten erläutert er, wie es zu Missverständnissen kommen kann.
Herr Knecht, nehmen Männer und Frauen Sex gleich wahr?
Es gibt eine Diskrepanz in der Wahrnehmung zwischen den Geschlechtern, was Sex betrifft. Die innere Erlebniswelt unterscheidet sich im Durchschnitt sehr zwischen Frauen und Männern. Ein junger Mann hat andere Bedürfnisse beim Sex, möchte rasche Erfolgserlebnisse, eine schnelle Triebentladung, Frauen hingegen stellen das Beziehungsmässige stärker in den Vordergrund. Männer sehen laut Studien auch schneller sexuelles Interesse von Frauen, obwohl es dieses oft gar nicht gibt.
Gibt es Unterschiede bei der Erregungskurve von Frauen und Männer?
Die Erregungskurve läuft zwischen den Geschlechtern recht unterschiedlich ab, es gibt ganz eklatante Unterschiede in Bezug auf das Tempo. Männer haben eine viel linearere Erregungskurve als Frauen. Für einen jungen Mann sind die Dinge schneller klar, als für eine Frau. Im Gegensatz dazu geht die Erregungskurve einer Durchschnittsfrau auf und ab, ist nicht so linear, was vor allem im Jugendalter schnell zu Missverständnis oder Unverständnis in beiderlei Richtung führen kann.
Was kann zu Missverständnissen und Beschuldigungen führen, die sich nicht bewahrheiten?
Es kommt vor, dass vor allem bei Frauen eine Enttäuschung nach einem sexuellen Kontakt eintritt und dann retrospektiv eine Bewertung erfolgt, die es so im Moment des sexuellen Kontakts nicht gab. Gemäss Studien herrschen bei Frauen oft ambivalente Gefühle vor, insbesondere bei kurzfristigen sexuellen Beziehungen. Das Pendel kann nach der sexuellen Erfahrung auf die andere Seite, die der negativen Gefühle, umschwingen. Wenn das retrospektiv negativ Bewertete noch durch Freunde oder das Umfeld bestärkt wird, können sich die Erinnerungen schnell so umformen und ein Erinnerungsbild entstehen, das die Situation nicht realitätsgemäss wiedergibt. Meinungen und Empfindungen sind ein subjektives Gefühl und nicht in Stein gemeisselt.
Wieso fällt es vielen Frauen schwer, die ganz objektiv betrachtet Opfer eines Sexualverbrechens geworden sind, eine Anzeige zu erstatten?
Sie wissen, dass sie sich vor fremden Menschen öffnen und dabei tief in die Details gehen müssen. Auch der Rechtsstreit vor Gericht wird als Stress imaginiert. Solche Vorstellungen lösen Vermeidungsverhalten aus.
Was können Opfer sexueller Gewalt tun, um das Erlebte zu verarbeiten?
Die Zeit heilt viele Wunden, aber oft reicht das nicht. Manchmal braucht es eine spezifische Traumatherapie. Auch die Opferhilfe kann bei der Krisenbewältigung hilfreich sein. Langfristig wirkt es am besten, wenn die betroffene Person positive und damit korrigierende Beziehungserfahrungen macht.
Gibt es bei Hetero- und Homosexuellen gleich häufig Sexualdelikte und Missverständnisse?
Ich habe in 40 Jahren nicht einen Begutachtungsfall gehabt, bei dem es um die sexuelle Beziehung ebenbürtiger homosexueller Partner ging. Es gibt natürlich weniger Homosexuelle als Heterosexuelle in der Gesellschaft, aber auch im Verhältnis gibt es in dieser Gruppe seltener Sexualdelikte und Missverständnisse beim Sex. Das kann auch daran liegen, dass sich die Wahrnehmung zwischen den Geschlechtern unterscheiden und gleichgeschlechtige Partner sich besser verstehen. Die Partner verstehen also eher, was der andere wirklich möchte und wozu er bereit ist.
Was sagen Sie zum Ja, heisst Ja-Modell, das von einigen gefordert wird?
In einem solchen Modell braucht es eine absolute Willensbekundung. Eine rechtsgenügliche Willensbekundung zu allen sexuellen Handlungen entspricht allerdings in vielen Fällen nicht der sexuellen Realität, insbesondere beim Spontansex. Auch kann sich ja ein einmal verbal gegebenes Einverständnis ändern, und das unter Umständen auch nonverbal geäussert werden. Als Mann muss man dann oft im treuen Glauben sein, denn eine absolute Zustimmung wird man nicht zu jedem Schritt eines sexuellen Verkehrs einholen können, das wäre wohl ein ziemlicher Lustkiller. Eine Partnerin bezüglich der Stabilität ihrer Meinungsbildung richtig einzuschätzen, erfordert geradezu eine psychologische Analyse. Das ist schon ein sehr hoher Anspruch, vielleicht sogar ein zu hoher.
Haben psychische Störungen einen Zusammenhang mit Beschuldigungen im Bereich der Sexualdelikte, die sich nicht bewahrheiten?
Es gibt eine Bandbreite an psychischen Störungen und pauschal kann keine Aussage getroffen werden. Bei vielen psychischen Störungen ist die Fähigkeit zur Kommunikation und die Bewertung des Erlebten verändert, zum Beispiel bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung, was sich auch auf das sexuelle Erleben auswirkt. Oft herrscht eine instabile und ambivalente, das heisst uneindeutige Gefühlslage vor. Ähnliches trifft zum Beispiel auf soziopathische Persönlichkeiten auf, bei denen Sex kalt berechnend zum Beispiel als Erpressungsmittel eingesetzt wird.
Welche Tipps haben Sie, um Missverständnisse beim Sex zu vermeiden?
Sich viel Zeit lassen, das Gegenüber im Auge behalten, bei Stimmungswechsel nachfragen, im Zweifelsfall eine Pause einlegen. Nicht jede sexuelle Begegnung wird zur Erfolgsstory. Das gilt für beide Seiten.
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Hier findest du Hilfe:
Belästigt.ch, Onlineberatung bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
Verzeichnis von Anlaufstellen
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
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