Corona-Gegner in der Politik: Politologe Daniel Kübler ordnet ein

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Interview«Solche Parteien stehen bald vor der Frage, was sie noch zu sagen haben»

In mehreren Kantonen wollen Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Massnahmen ins nationale Parlament. Politologe Daniel Kübler über ihre Chancen, ihre Zukunft und das Covid-Gesetz.

Die Partei «Aufrecht Schweiz», im Bild links Mitgründer Patrick Jetzer, entstand als Reaktion auf die Massnahmen gegen das Coronavirus. 
Die Partei beteiligte sich immer wieder an Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen. 
Im Herbst wollen mehrere Mitglieder den Sprung ins nationale Parlament schaffen. 
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Die Partei «Aufrecht Schweiz», im Bild links Mitgründer Patrick Jetzer, entstand als Reaktion auf die Massnahmen gegen das Coronavirus. 

Tamedia AG

Darum gehts

  • Im Herbst wählt die Schweiz ein neues Parlament. 

  • Neben Mitgliedern von etablierten Parteien wollen dieses Jahr auch Splitterparteien, die aus der Bewegung der Corona-Massnahmengegner entstanden sind, den Sprung nach Bern schaffen. 

  • Das dürfte je nach Kanton schwierig werden, sagt Politologe Daniel Kübler von der Universität Zürich. 

  • Einzelne Sitzgewinne seien trotzdem nicht ausgeschlossen. 

Mehrere Kritiker der Corona-Massnahmen wollen ins Parlament. Wie stehen ihre Chancen?

Daniel Kübler: Das kommt stark darauf an, in welchem Kanton sie kandidieren, wie die politische Landschaft und die Konkurrenz dort aussieht. Klar ist: Die Wahl in den Ständerat ist eine hohe Hürde, weil es in fast allen Kantonen eine Majorzwahl ist (Begriffserklärung siehe unten). Thomas Minder, Vater der Abzockerinitiative, hat aber gezeigt, dass auch ein Alleingang in den Ständerat erfolgreich sein kann.

Und im Nationalrat?

Da ist die Hürde etwas weniger hoch. In Zürich gibt es 36 Sitze, es braucht also ungefähr drei Prozent der Stimmen, um einen Sitz zu erobern. Da sind die Chancen viel grösser, wenn die Kandidaten sich zusammenraufen und Wahlkampf machen.

Was kann ein einzelner Nationalrat bewirken?

Es gab schon diverse Kleinparteien in der Schweiz, die teils auch One-Man-Shows waren oder nur ein Thema hatten, etwa die Autopartei oder die FRAP!. Ein Nationalrat oder eine Nationalrätin kann Anliegen ins Parlament tragen, indem er oder sie Vorstösse einreicht. Aber natürlich kann man nicht alleine die Politik verändern. Um in Kommissionen mitwirken zu können, muss ein Nationalrat etwa zumindest einer Fraktion angehören.

«Das Covid-Gesetz hat durchaus Spuren hinterlassen in der Bevölkerung»

Nach wie vor sagen 37 Prozent Nein zur Verlängerung des Covid-Gesetzes. Sind das alles Unterstützer solcher Splitterparteien?

Nein. Die SVP ist als grösste Partei des Landes ebenfalls dagegen, da wird es viele SVP-Wählerinnen und -Wähler dabei haben. Trotzdem zeigen die 37 Prozent, dass die Sache noch nicht gegessen ist. Das Covid-Gesetz hat durchaus Spuren hinterlassen in der Bevölkerung.

Könnten «Aufrecht»-Kandidierende also der SVP Wählerstimmen abjagen?

Das ist schwierig. Es gibt vereinzelt Menschen, die sich aufgrund der Pandemie vom politischen System verraten fühlen. Entscheidend wird sein, ob Parteien wie Aufrecht Schweiz es schaffen, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, die vorher nicht gewählt haben. In Zürich haben wir Anzeichen gesehen, dass ihnen das gelungen ist. Dort hat Aufrecht Schweiz mit 2,15 Prozent einen Achtungserfolg erzielt. Splitterparteien nehmen hier eine wichtige demokratische Rolle ein.

«Es gehört zu einer Demokratie, solche Splitterparteien ernst zu nehmen» 

Welche?

Gäbe es Aufrecht Schweiz nicht, hätten diese Menschen keine Kanäle, um ihre Anliegen kundzutun und würden sich womöglich ganz vom politischen System verabschieden. Das ist gefährlich. Das Anliegen, dem Staat bei der Anwendung von Notrecht genau auf die Finger zu schauen, ist absolut legitim und deshalb sind solche Gruppierungen für eine Demokratie wichtig. Es wäre falsch, sie zu belächeln. Es gehört zu einer Demokratie, sie ernst zu nehmen. Und wenn sie Mehrheiten finden, ist das zu respektieren.

Sind solche Parteien eher Strohfeuer oder sind sie gekommen, um zu bleiben?

Es gab immer wieder Ein-Thema-Parteien wie etwa die Autopartei. Früher oder später stehen solche Parteien vor der Frage, was sie sonst noch zu sagen haben. Gelingt es, in den Nationalrat zu kommen, wird die Themenpalette, mit der man sich auseinandersetzen muss, extrem breit. In der nächsten Legislatur wird das EU-Dossier oder die Frage nach der Neutralität sehr wichtig. Bisher wissen wir nicht, wie diese Parteien und Personen darüber denken. Die Frage wird sein: Gelingt es, eine eigene Position zu wichtigen Themen zu etablieren, oder verschmelzen sie früher oder später mit einer grösseren Partei?

Auf kommunaler Ebene gab es schon vereinzelte Wahlerfolge für «Aufrecht». Ist dieser Weg erfolgversprechender?

Auf lokaler Ebene können sie durchaus eine Rolle spielen. Aber die Gemeindepolitik ist oft weit weg von den nationalen Themen und sehr sachbezogen. Es ist nicht auszuschliessen, dass sie sich in der Lokalpolitik einen Namen machen und dann als unabhängige Kandidaten für den Nationalrat kandidieren. Doch oft sind unabhängige Lokalpolitikerinnen und -politiker nicht sehr lange dabei, weil es schwierig ist, ohne Partei im Rücken durchzuhalten und in den oberen Ebenen Karriere zu machen.

Proporz- und Majorz-Wahlen

Die Nationalratswahlen erfolgen nach dem Proporzsystem. ​Dabei werden die Sitze im Verhältnis zu den erzielten Stimmen auf die Parteien verteilt. Anschliessend erhalten die Kandidatinnen und Kandidaten mit den höchsten Stimmenzahlen die von ihrer Partei errungenen Sitze.

Die Ständeratswahlen sind im Gegensatz zu den Nationalratswahlen kantonale Wahlen. In den Kantonen Jura und Neuenburg wird das Proporzverfahren angewandt, in den anderen Kantonen das Majorzverfahren. Bei Majorzwahlen wird im ersten Wahlgang in der Regel das absolute Mehr verlangt, im zweiten Wahlgang genügt das relative Mehr. 

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