Gangs in Stuttgart: Eskalation wegen fehlender Polizisten?

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Stuttgart«Die Banden sind besser ausgerüstet als die Polizei»

Baden-Württemberg hat bundesweit die kleinste Polizeidichte. Das ist laut einem Experten und der Gewerkschaft der Grund dafür, wieso die Gang-Gewalt in Stuttgart derart eskalieren konnte.

Darum gehts

  • Im Grossraum Stuttgart sorgen zwei verfeindete kriminelle Banden für Aufruhr.

  • Ein Experte und die Polizeigewerkschaft sind sich einig: Die Polizei hat nicht genügend Ressourcen, um der Gewalt ein Ende zu setzen.

  • Die Polizeidichte in Baden-Württemberg ist bundesweit am geringsten.

  • Nun will das Innenministerium neue Massnahmen ergreifen.

Schiessereien, Aufmärsche und ein Handgranaten-Angriff: Zwei verfeindete Banden halten den Grossraum Stuttgart in Atem. Laut dem deutschen Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba gestalten sich die Ermittlungsprozesse der Polizei besonders schwierig. Der Hauptgrund dafür sind laut dem Experten die unzureichenden polizeilichen Ressourcen, um gegen solche Gangs vorgehen zu können.

«Die Banden sind besser ausgerüstet als die Polizei. Sie haben mehr Mitglieder als die Behörden, sind gut formiert und haben leichten Zugang zu Waffen und anderen Technologien.» Zudem investieren die Gruppen gemäss Jaraba viele Ressourcen zur Ausweitung ihres Netzwerkes. Zu ihrem Waffenbestand gehören nicht nur Klappmesser und einfache Revolver, sondern Maschinenpistolen, Schalldämpfer und sogar Handgranaten.

Die Ermittler ordnen die eine Bande auf der Achse Stuttgart – Göppingen, die andere auf der Achse Ludwigsburg – Esslingen – Plochingen zu.

20min/Taddeo Cerletti

Bundesweit kleinste Polizeidichte

Auch die Gewerkschaft der Polizei in Baden-Württemberg nennt gegenüber ARD die geringe Polizeidichte als Grund, weshalb die Gewalt im Grossraum Stuttgart derart eskalieren konnte. Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass es mit 273 Personen in keinem anderen Bundesland so wenige Polizistinnen und Polizisten pro 100’000 Einwohnern gibt wie in Baden-Württemberg (Stand 2022).

Das Thema scheint für die verantwortlichen Behörden heikel: Anfragen zu den Polizei-Ressourcen beim baden-württembergischen Innenministerium, der Polizei Stuttgart und dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann blieben bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet. Auch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA BW) beantwortet die Frage bezüglich der Polizeidichte nicht und verweist an das Innenministerium.

In Stuttgart bekämpfen sich zwei verfeindete Banden. Bei der Trauerfeier eines Clanmitglieds warf ein junger Mann eine Handgranate in die Gruppe der Anwesenden.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat Anklage unter anderem wegen versuchten Mordes gegen den 23-jährigen Granatenwerfer erhoben. Er gestand die Tat, schwieg aber zu allen anderen Fragen.
Die Polizeigewerkschaft nennt gegenüber ARD die geringe Polizeidichte als Grund, weshalb die Gewalt im Grossraum Stuttgart derart eskalieren konnte.
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In Stuttgart bekämpfen sich zwei verfeindete Banden. Bei der Trauerfeier eines Clanmitglieds warf ein junger Mann eine Handgranate in die Gruppe der Anwesenden.

Christoph Schmidt/dpa

Chronologie der Gewalt

«Suche nach Anerkennung und Bestätigung»

Laut LKA-Sprecher David Fritsch handelt es sich bei den Vorfällen im Grossraum Stuttgart um ein neues Kriminalitätsphänomen, das mit keinem anderen Verfahren in Deutschland vergleichbar ist. «Die Motivation für das gezeigte Verhalten liegt nach hiesigem Eindruck vor allem in der Suche nach Anerkennung und Bestätigung innerhalb der Gruppierungen, im Streben nach materiellem Gewinn und oft auch nach einer kriminellen Karriere.»

Dem LKA sei kein weiteres Verfahren in Baden-Württemberg bekannt, bei dem ein so hoher Personaleinsatz über einen so langen Zeitraum vorlag. «Die Ermittlungen werden aktuell von über 130 Beamtinnen und Beamten des LKA BW und der betroffenen regionalen Polizeipräsidien geführt.» Die Gewalttaten und die dahinterstehenden Gruppierungen seien seit Anfang 2023 fest im Fokus des LKA: «Deren Bekämpfung hat höchste Priorität.»

56 Personen festgenommen

Ähnlich äusserte sich der stellvertretende Ministerpräsident und Innenminister Thomas Strobl vergangene Woche zur Bandenkriminalität in Stuttgart vor den Medien. Man bekämpfe die kriminellen Auseinandersetzungen «hartnäckig und konsequent». «Wir haben hier einen langen Atem und wir geben auch keinen Millimeter nach», sagte er.

Bisher habe man im Zusammenhang mit der Bandenkriminalität 56 Personen festgenommen, 2500 Personen kontrolliert, 138 Durchsuchungen durchgeführt und 24 Schusswaffen sichergestellt. Das LKA BW sagt gegenüber 20 Minuten, dass neben den 24 Schusswaffen 115 Waffen sichergestellt wurden. Zudem habe man 400 Fahrzeuge kontrolliert.

Nach den Ermittlungen der letzten Monate, so Strobl, habe man sich dazu entschieden, die Ermittlungsarbeit nachzuschärfen. Explizit wurden sechs Massnahmen vorgestellt. Unter anderem soll neu das LKA alle Ermittlungen rund um die Führungsriege der Banden und den dazugehörigen harten Kern übernehmen. Die regionalen Polizeipräsidien übernehmen gleichzeitig die Umfeldermittlungen der Gruppen. Sie kümmern sich also um die Unterstützer der Gruppen und Personen, die sich mit ihnen verbunden fühlen. Zudem haben das LKA und die Polizeipräsidien eine Sonderkommission mit 135 Beamten gegründet.

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Alter ohne Gewalt, Tel. 0848 00 13 13

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Beratungsstellen für gewaltausübende Personen

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