Gewaltspirale in Stuttgart: So ticken die verfeindeten Banden

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DeutschlandGewaltspirale in Stuttgart: So ticken die verfeindeten Banden

In Stuttgart bekriegen sich zwei verfeindete Banden seit knapp zwei Jahren. Jedes Mitglied hat eine klare Rolle und damit verbundene Aufgaben. Ein Experte erklärt, wie die Gangs funktionieren und wie sie junge Männer anziehen.

Eine der zwei Gruppen ist Esslingen, Plochingen und Ludwigsburg zugeordnet. Die andere hat sich in Zuffenhausen beziehungsweise Göppingen etabliert. 

Taddeo Cerletti/ 20 min

Darum gehts

  • Stuttgart ist seit zwei Jahren von schwerer Gang-Kriminalität betroffen, mit Schusswechseln, Anschlägen und Aufmärschen zweier verfeindeter Gruppen.

  • Rund 500 vorwiegend junge Männer zwischen 18 und 28 Jahren sind laut der Polizei in den Banden involviert.

  • Laut dem Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba nimmt das Phänomen aktuell weiter zu.

  • Die Bandenmitglieder verdienen ihr Geld vor allem mit Drogen- und Waffenhandel. Somit wollen beide Gruppen in der Gegend vorherrschend sein.

Seit rund zwei Jahren befindet sich Stuttgart in einer Gewaltspirale. Zwei verfeindete Gangs mit rund 500 Mitgliedern bekriegen sich. Die eine Bande ist in Stuttgart und Göppingen angesiedelt, die andere in Esslingen, Ludwigsburg und Plochingen. Immer wieder kommt es zu Messerstechereien und Schusswechseln auf der offenen Strasse, teils auch mitten am Tag. Der deutsche Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba erklärt, was die Gangs ausmacht und wie es so weit kommen konnte.

Herr Jaraba, wer sind die Mitglieder der beiden Banden?

Laut Angaben der Polizei gehören allein dem Kern der beiden Gangs 500 junge Männer an. Die meisten von ihnen sind zwischen 18 und 28 Jahre alt. Viele von ihnen vereint ein ethnischer und kultureller Hintergrund. Die meisten Mitglieder sind Kurden, Türken und Syrer, es gibt aber auch Mitglieder aus dem Balkan, Osteuropa oder Afrika. In dieser Zusammensetzung unterscheiden sich die beiden verfeindeten Gruppen eigentlich nicht.

20min/Taddeo Cerletti

Wenn sich die Mitglieder ähneln, wieso sind sie dann verfeindet?

Die Gründe für die Eskalation sind nicht bekannt. Es ist jedoch denkbar, dass es sich vor allem um einen Machtkampf handelt. Die Bandenmitglieder verdienen ihr Geld im Grossraum Stuttgart mit kriminellen Geschäften wie Drogen- und Waffenhandel, aber auch mit Betrugsmaschen und Erpressungen. Somit haben beide Gruppen Interesse daran, in der Gegend vorherrschend zu sein. Der territoriale Konkurrenzkampf und gegenseitige Ehrverletzungen können den Konflikt schnell verstärken.

Wie sind die Banden strukturiert?

Grundsätzlich sind die Gangs lose strukturiert, sie haben aber Clan-ähnliche Züge. Viele Mitglieder sind aus Familien mit gleicher ethnischer Herkunft. Das stärkt ihre Verbundenheit. Die Banden sind aber durchaus hierarchisch aufgebaut. Das heisst, dass jedes Mitglied eine klare Rolle hat und damit verbundene Aufgaben.

In Stuttgart bekämpfen sich zwei verfeindete Banden. Bei der Trauerfeier eines Clanmitglieds warf ein junger Mann eine Handgranate in die Gruppe der Anwesenden.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat Anklage unter anderem wegen versuchten Mordes gegen den 23-jährigen Granatenwerfer erhoben. Er gestand die Tat, schwieg aber zu allen anderen Fragen.
Nach Angaben der Polizei sind allein im Kern der zwei Banden rund 500 vorwiegend junge Männer involviert.
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In Stuttgart bekämpfen sich zwei verfeindete Banden. Bei der Trauerfeier eines Clanmitglieds warf ein junger Mann eine Handgranate in die Gruppe der Anwesenden.

Christoph Schmidt/dpa

Was zieht die jungen Männer in die Banden?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Viele von ihnen wachsen in diesen Ortschaften auf und kommen so schon früh aufgrund von Bekannten oder auch Verwandten mit Kriminellen in Kontakt. Der Weg in die Bandenkriminalität ist dann nicht mehr weit. Zudem haben viele der jungen Männer keinen Schulabschluss und kommen aus bildungsfernen Milieus, wodurch sie sich ohne Perspektive und Zukunft sehen. Gleichzeitig eifern sie jedoch einem Lebensstil mit viel Geld, teuren Autos und schönen Frauen nach. Ihre grossen Vorbilder sind Gangster-Rapper. Der schnellste Weg, sich diesen Traum zu erfüllen, sind für sie eben illegale Geschäfte.

Wieso weiss man so wenig über die Gangs?

In solchen Gangs gibt es einen sogenannten Ehrenkodex. Selbst diejenigen, die von der Polizei gefasst werden, schweigen eisern. Die Mitglieder sehen sich als Brüder, Verrat wäre undenkbar für sie. Zudem haben diese jungen Männer kein Vertrauen in die Justiz, wenn sie aber schweigen, verspricht die Bande, sich sowohl um sie als auch um ihre Familie zu kümmern. Andererseits besteht aber auch die Angst um das eigene Leben. Morddrohungen sind nicht selten bei solchen Gangs.

Chronologie der Gewalt

Ist das ein reines Stuttgart-Problem oder sieht man das auch in anderen Städten?

Deutschland kämpft schon seit den 1980er-Jahren mit dem Phänomen der Bandenkriminalität. Brennpunkte sind etwa Köln, Bremen, Dortmund, Hannover, Essen und Frankfurt, doch inzwischen finden sich fast überall in Deutschland unterschiedlich grosse Gruppierungen.

Die grosse Debatte um Kleinkriminalität und die damit verbundene Bandenkriminalität wird erst seit 2017 intensiv geführt. Seitdem geht die Polizei gezielt gegen Gangs vor und versucht, ihre Formierung im Keim zu ersticken. Aktuell nimmt das Phänomen weiter zu. Die Sorge, dass sich weitere Gruppen bilden, ist berechtigt. Eine konkrete Lösung gibt es vom Staat nicht. Es ist also sicher, dass dieses Thema die Polizei, die Wissenschaft und die Gesellschaft die nächsten Jahre weiterhin beschäftigen wird. 

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Alter ohne Gewalt, Tel. 0848 00 13 13

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Beratungsstellen für gewaltausübende Personen

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