Ukraine-KriegWestliche Wirtschaftssanktionen machen Russen zu Putin-Anhängern
Die Wirtschaftssanktionen sollen nicht nur den russischen Krieg erschweren, sondern auch die Unterstützung für Putin untergraben. Doch womöglich erreichen sie das Gegenteil.
Darum gehts
Die harten Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland haben bei der russischen Elite nicht den erhofften Effekt – so sammeln sich bisher pro-westlich eingestellte Russinnen und Russen hinter ihrem Präsidenten.
«Der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen alle Russen unabhängig von ihren politischen Überzeugungen begonnen hat, vereint sie mehr als alle Kreml-Propaganda der vergangenen Jahre», sagt der Politologe Georgi Bowt. «Indem er die Nation nicht von ihrem Anführer unterscheidet, befördert der Westen die Entstehung eines neuen Staates vor seinen Grenzen: des Anti-Westens.»
Es gehe um die «Souveränität Russlands»
Die westlichen Staaten haben gehofft, dass die Sanktionen die Unterstützung für den Kreml-Chef Wladimir Putin im eigenen Land schwächen würden. Doch nun sieht es danach aus, als wäre das Gegenteil der Fall. Nach dem ersten Schock haben viele Mitglieder der bisher pro-westlichen russischen Mittelklasse das Gefühl, dass sie vom Westen unfair behandelt werden – und scharen sich hinter Putin.
Für die russische Bevölkerung bedeuten die Sanktionen beispielsweise, dass sie auf geplante Reisen verzichten müssen, ebenso wie auf europäische Medikamente und Kreditkarten. Auch westliche Unternehmen wie McDonald’s, Starbucks und Coca-Cola haben sich temporär aus Russland zurückgezogen.
«Putin hatte keine andere Wahl, als eine Invasion in die Ukraine anzuordnen, um uns vor den Angelsachsen zu bewahren», sagt etwa Rita Guerman. Die 42-jährige Werbeproduzentin war nach eigenen Worten bis vor kurzem noch «liberal und anti-Putin». Doch die nach der russischen Invasion in der Ukraine verhängten Sanktionen des Westens hätten ihr «die Augen geöffnet».
«Anti-russische Hysterie»
Normalerweise könne «niemand Krieg akzeptieren», sagt die Werbefachfrau. In der gegenwärtigen Lage gehe es aber um die «Souveränität Russlands»: «Wir stehen unter Belagerung», sagt sie mit Blick auf die Sanktionen. Auf «Coca-Cola und iPhones» könne sie verzichten – es gebe wichtigere, «grundlegende Werte».
Viele Mitglieder der Mittelklasse verstünden nicht, warum sie kollektiv die Folgen von Putins Vorgehen in der Ukraine tragen müssen, obwohl sie den Präsidenten nie gewählt haben, sagt die Soziologin Natalja Tichonowa von der Russischen Akademie der Wissenschaften: «Die Dämonisierung der Russen als Nation durch Europa treibt sie nur dazu, sich hinter der Flagge zu versammeln.»
Der 37-jährige Moskauer Alexander Nikonow glaubt, derzeit herrsche im Rest der Welt eine «anti-russische Hysterie». Die Russinnen und Russen müssten daher zusammenstehen: «Dies ist nicht die Zeit für Zankereien.» Selbst seine Kollegen, die noch vor kurzer Zeit offen regierungskritisch gewesen seien, seien nun verstummt.
Alle oppositionellen Medien verboten
In einer im März veröffentlichten Studie des unabhängigen Instituts Lewada äusserten sich 83 Prozent der Befragten mit Putins Arbeit zufrieden, im Dezember waren es noch 65 Prozent gewesen. Viele Soziologen weisen allerdings darauf hin, dass Umfragen in einer Kriegssituation kein objektives Bild vermitteln, da Kritik an der Regierung quasi verboten ist. Die letzten oppositionellen Medien wurden in den vergangenen Wochen verboten oder mussten den Betrieb einstellen. Die verbliebenen staatsnahen TV-Kanäle produzieren derweil fleissig Sendungen mit anti-ukrainischer und anti-westlicher Propaganda.
Zu Beginn der Invasion in der Ukraine wurden in Russland mehr als 15’000 Menschen bei Protesten festgenommen, inzwischen gibt es kaum noch Proteste. Zehntausende Russinnen und Russen, die meisten davon mit hoher Bildung, verliessen das Land. Wer geblieben ist, muss sich mit den Folgen der Wirtschaftssanktionen arrangieren – und viele stimmen der vom Kreml verbreiteten Darstellung zu, der Westen führe einen «umfassenden Krieg» gegen Russland.
Beschäftigt dich oder jemanden, den du kennst, der Krieg in der Ukraine?
Hier findest du Hilfe für dich und andere:
Fragen und Antworten zum Krieg in der Ukraine (Staatssekretariat für Migration)
Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, Tel. 058 400 47 77
Kriegsangst?, Tipps von Pro Juventute
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Anmeldung und Infos für Gastfamilien:
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tel. 058 105 05 55