Marodes Asylsystem«Ohne Drittstaatenlösung wird Europas Asylpolitik scheitern»
Nach Jahren des Stillstands hat sich die EU vor kurzem auf eine Asylreform geeinigt. Ein Experte bezweifelt, dass sich dadurch viel ändern wird – weil es an Lösungen für die Schlüsselfrage fehle.
Darum gehts
- In Europa herrscht Unmut über die Asylpolitik, das Klima wird vielerorts rauer.
- Erst kürzlich wurde ein EU-Asylpakt verabschiedet.
- Der Soziologe Kristof Bender bezweifelt, dass dieser viel ändern wird.
- Denn Antworten auf die wichtigste Frage fehlten dort: Was passiert mit Asylsuchenden, die keinen Schutz bekommen?
- Für Bender ist eine sichere Drittstaatenlösung eine sinnvolle Lösung, um illegale Migration zukünftig zu minimieren.
In Europa herrscht Unmut über die Asylpolitik. Die einen finden, dass viel zu viele Geflüchtete aufgenommen werden, die anderen fühlen sich als Staat an der Aussengrenze im Stich gelassen, und wieder andere wollen endlich verbindliche Aufnahmequoten. Weil sich die Mitgliedsstaaten nicht einig sind, scheitern Reformen seit Jahren. Immerhin: Erst kürzlich wurde ein neuer EU-Asylpakt verabschiedet.
Hat dieser tatsächlich das Potenzial, die irreguläre Migration einzudämmen? Der Soziologe Kristof Bender bezweifelt es – und schlägt andere Lösungen vor.
Der Experte
Herr Bender, funktioniert das Dublin-System noch?
Das Dublin-System hat nie funktioniert. Der Grossteil der Asylsuchenden hat sich immer in Länder mit verlässlichen Asylsystemen und guter Versorgung begeben, also in Länder wie Deutschland, Frankreich, Österreich oder die Schweiz. Laut Dublin dürften diese Länder kaum Asylanträge verzeichnen, weil das Land zuständig wäre, in das man als Erstes eingereist ist. Das sind in den seltensten Fällen die oben genannten Staaten.
Was wird der EU-Asylpakt ändern?
Fast nichts, weil er keine Antwort auf die Schlüsselfrage gibt. Italien, das heute pro Jahr nicht einmal 1000 Personen mit abgewiesenem Antrag nach Afrika zurückschickt, wird nicht plötzlich Zehntausende zurückschicken können.
Der EU-Asylpakt
Wie lautet also die Schlüsselfrage?
Was machen wir mit Asylsuchenden, die keinen Schutz bekommen? Kein EU-Land hat darauf eine überzeugende Antwort. Rückführungen nach Afrika und Asien gibt es nur wenige. Trotz ausserordentlicher Brutalität an den EU-Aussengrenzen bleibt die EU ein Magnet, weil kaum jemand, der es in die EU schafft, rückgeführt wird, egal, wie das Asylverfahren ausgeht. Wer irreguläre Migration – und damit auch die Zahl der Toten im Mittelmeer – im Einklang mit Gesetz und Menschenrechten reduzieren will, braucht eine Antwort auf diese Frage.
Wie lautet Ihre?
Die Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten – wenn das richtig gemacht wird. Nirgends in der Genfer Flüchtlingskonvention steht, dass man sich aussuchen kann, wo man ein Asylverfahren erhält. Allerdings muss gewährleistet sein, dass es ein faires und sicheres Asylverfahren gibt. Wenn Bedenken bestehen, könnte auch das UN-Flüchtlingswerk die Asylverfahren durchführen.
Wieso sollten Drittstaaten die Migrationsprobleme Europas lösen wollen?
Wichtig ist, dass wir ihnen ein attraktives Angebot machen, wie zum Beispiel jährliche Kontingente an EU-Arbeitsvisa für die eigene Bevölkerung. Das Ziel wäre, dass all jene, die wissen, dass sie keine Chancen auf Schutz haben, sich erst gar nicht auf den Weg machen, weil sie wissen, dass sie in einem weniger attraktiven Drittstaat landen.
Was hältst du von einer Drittstaatenlösung?
Gab es denn schon einmal eine solche Lösung?
Ja, die EU-Türkei-Erklärung. Ab Stichtag 20. März 2016 konnte Griechenland alle, die aus der Türkei auf griechische Inseln übersetzten, wieder in die Türkei zurückschicken. Im Gegenzug dafür versprach die EU unter anderem sechs Milliarden Euro für die Flüchtlinge in der Türkei und die direkte Umsiedlung von Geflüchteten aus der Türkei in die EU. In den zwölf Monaten vor dem Deal kamen eine Million Menschen auf den griechischen Inseln an; mehr als 1100 ertranken. In den zwölf Monaten danach kamen 26'000 an; 81 ertranken. Nach vier Jahren platzte der Deal, weil die EU keine weiteren Zahlungen mehr plante. Das Beispiel zeigt aber, dass so etwas funktionieren kann.
Wie eine solche Drittstaatenlösung denn genau aussehen müsste und ob andere Experten ebenfalls so grosse Hoffnungen in diese Idee setzen, liest du in einem späteren Teil unserer Migrationsserie.
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Carolin Teufelberger (cat) arbeitet seit 2024 für 20 Minuten als Redaktorin beim Ressort News, Wirtschaft & Videoreportagen.
