Showdown in LausanneAlle Richter gegen Beschwerde: Rentenalter 65 bleibt gültig
Heute musste das Bundesgericht entscheiden, ob die Abstimmung über die AHV-Reform wiederholt werden soll. Die Beschwerden von Grünen und SP wurden abgewiesen.
Darum gehts
Vor zwei Jahren sagte das Stimmvolk knapp Ja zu einer AHV-Reform, die ab 2025 ein höheres Rentenalter für Frauen vorsieht
Diesen Sommer machte das zuständige Bundesamt publik, dass die im Vorfeld der Abstimmung kommunizierten Zahlen nicht stimmten. Daraufhin reichten unter anderem die Grünen zwei Abstimmungsbeschwerden ein.
Heute Donnerstag entschied das Bundesgericht in Lausanne, ob die Abstimmung wiederholt werden soll.
Die Beschwerden wurden einstimmig abgelehnt.
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Frauenrentenalter bleibt bei 65: Das war der heutige Prozess im Bundesgericht
Vor vollem Saal entschied das Bundesgericht am Donnerstag, dass die Abstimmung über das höhere Rentenalter für die Frauen nicht wiederholt werden soll. Es wies die fünf Beschwerden einstimmig ab. Geklagt haben unter anderem die Grünen-Parteipräsidentin Lisa Mazzone oder SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, die in Lausanne im Publikum sassen.
Die Beschwerden waren eine Reaktion auf die Eingeständnis des Bundes, dass er bei den im Abstimmungsbüchlein publizierten Prognosen zur finanziellen Zukunft der AHV daneben lag. Das Defizit wurde um mehrere Milliarden zu hoch ausgewiesen.
Das fünfköpfige Richtergremium, das aus drei Männern und zwei Frauen bestand, vertrat durchaus unterschiedliche Positionen. Etwa in Bezug auf die Frage, wie gravierend die Fehlleistung des Bundes war. Bundesrichter Tobias Haag wollte als Einziger gar nicht erst auf die Beschwerden eintreten: «Die Beschwerdemöglichkeit wurde für den Extremfall geschaffen.»

«Wir sind rot vor Wut», skandierten die Gegnerinnen des höheren Rentenalters für Frauen vor dem Bundesgericht in Lausanne. Dieses wies die Beschwerden der Klägerinnen und eine Wiederholung der Abstimmung ab. Im Bild: Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone, Vania Alleva (Unia), SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, SP-Nationalrätin Tamara Funiciello.
20min/Delia BachmannAuch für Bundesrichter François Chaix lag keine schwerwiegende Verletzung der Informationspflicht vor. Die beiden nebenamtlichen Richterinnen, Marie-Claire Pont Veuthey und Tanja Petrik-Haltiner, die in die eigentlich rein männliche Kammer eingewechselt wurden, übten hingegen Kritik am Bundesrat. Dieser hätte transparent machen müssen, dass die Prognosen mit Unsicherheit behaftet sind.
Am Ende gewichtete das Bundesgericht die negativen Folgen einer Annullierung höher. Anders als das höhere Frauen-Rentenalter, das ab 2025 gilt, ist die höhere Mehrwertsteuer seit Anfang Jahr in Kraft und eine Rückerstattung nicht möglich: «Ich sehe keinen Weg diese Beschwerden gutzuheissen», sagte darum auch der vorsitzende SP-Bundesrichter Lorenz Kneubühler. Wegen der Rechtssicherheit sei es wichtig, dass einmal getroffene Entscheide Bestand hätten. Um 13 Uhr war es schliesslich offiziell: Die Abstimmung wird nicht wiederholt – das Rentenalter für Frauen bleibt bei 65 Jahren.
Grünen-Parteichefin Lisa Mazzone auf Instagram: «Wir sind hässig»
Andere Töne stimmt Grünen-Parteichefin Lisa Mazzone an, die für die Verhandlung eigens nach Lausanne gereist war. Auf Instagram teilt sie eine Story mit den Worten: «Wir sind hässig.»

Lisa Mazzone auf Instagram nach dem Bundesgerichtsurteil zum Frauenrentenalter
Screenshot InstagramNationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte) begrüsst den Entscheid
Auf X teilt Juristin und Nationalrätin Elisabeht Schneider-Schneiter mit, dass sie sich über den Entscheid des Bundesgerichts freut.
«Das gleiche Rentenalter für Frauen und Männer ist überfällig», schreibt die Baselbieterin auf dem Kurznachrichtendienst.
Jetzt ist es offiziell: Keine Wiederholung der Abstimmung
Das Frauen-Rentenalter bleibt bei 65 Jahren. Einstimmig beschliesst das Gericht, die Beschwerden abzuweisen.
Ex-Präsident des Bundesgerichts verlässt Saal: «Abweisung ist der richtige Entscheid»
Zum ersten Mal seit seinem Rücktritt als Präsident ist Ulrich Meyer zurück am Bundesgericht – als Zuschauer. Als die zweite Diskussionsrunde beginnt, verlässt er mit Markus Metz, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, den Saal. «Der Fall ist gelaufen», sagt er im Entrée.

«Der Fall ist gelaufen», findet Ulrich Meyer, der ehemalige Präsident des Bundesgerichts.
20min/dbaErwartetet hätte er die Einstimmigkeit nicht. Mit dem Gehörten ist er aber zufrieden: «Die Abweisung der Beschwerden ist aus rechtsstaatlicher Sicht der richtige Entscheid», sagt er. Wie Haag wäre er selbst gar nicht auf die Beschwerden eingetreten. Nun gehen er und Metz zusammen Mittagessen, vorbei an den Gegnerinnen und Gegnern, die draussen demonstrieren.
Kneubühler: «Ich sehe keinen Weg diese Beschwerden gutzuheissen»
«Dass eine Fehlinformation vorliegt, lässt sich nicht bestreiten», sagt der vorsitzende Richter Lorenz Kneubühler und widerspricht damit seinem Kollegen Haag. Man soll Informationen von Behörden vertrauen können. Er sehe aber auch Gründe, nicht von einer schwerwiegenden Verfälschung auszugehen.
Zudem handle es sich nicht um eine bewusste Irreführung. Der Hauptvorwurf, den man dem Bundesrat machen könne: «Er hat nicht offengelegt, dass es sich bei den Zahlen um Schätzungen handelt. Daran ändert auch eine Fussnote nichts.»
Aus Gründen der Rechtssicherheit sei es wichtig, dass einmal getroffene Entscheide Bestand hätten. Bisher habe das Bundesgerichts erst einmal eine Abstimmung aufgehoben. Und zwar jene über die Heiratsstrafe: «Dort war das Ergebnis aber ein Nein, blieb also ohne praktische Folgen.»
Ein weiteres Problem sei, dass die Abstimmung über die Mehrwertsteuer ebenfalls aufgehoben werden müsste. Das würde viele praktische Probleme mit sich bringen. Auch wenn die Erhöhung erst ab Januar in Kraft tritt, hätten sich viele schon darauf vorbereitet. Dass das Stimmvolk inzwischen eine 13. AHV beschlossen habe, verunmögliche eine Wiederholung der Abstimmung in der gleichen Form.
«Ich sehe keinen Weg diese Beschwerden gutzuheissen», lautete dann auch das Fazit von Kneubühler.
Die Rentenalter-Abstimmung bleibt wohl gültig
Auch Tanja Petrik-Haltiner sieht das Transparenzprinzip in einem wichtigen Punkt verletzt. Dennoch seien die Beschwerden abzuweisen. Mit ihr sprachen sich schon vier von fünf Mitgliedern des Gerichts für ein Nein aus.
Trotz Kritik: Auch Pont Veuthey ist für eine Abweisung
Ersatzrichterin Marie-Claire Pont Veuthey kritisierte den Bundesrat. Dieser habe mit den falschen Zahlen die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Rentenreform begründet. Diese hätten darum einen massgeblichen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis gehabt. Zudem habe er das Transparenzprinzip verletzt, indem er zu wenig auf die Unsicherheiten der Prognosen hingewiesen habe. Trotzdem gewichtete auch sie die negativen Konsequenzen einer Wiederholung der Abstimmung höher und beantragte eine Abweisung der Beschwerden.
Chaix und Haag gegen Annullierung
Zum Schluss äusserte Bundesrichter Chaix seine Meinung. Aus seiner Sicht liegt keine schwerwiegende Verletzung der Informationspflicht vor. Auch Bundesrichter Tobias Haag führt aus, dass die Hürden sehr hoch seien, um eine Abstimmung zu kippen. So müssten gravierende Mängel, die Abstimmung erheblich beeinflusst haben. Dies aus Gründen der Rechtssicherheit. «Die Beschwerdemöglichkeit wurde für den Extremfall geschaffen», sagt er. Wie Chaix stellt auch Haag den Antrag, nicht auf die Beschwerden einzutreten.
Grüne warten Entscheid in Kaffee ab
Gleich neben dem Bundesgericht warten im «Café Etoile Blanche» über 50 Grüne auf den Entscheid des Bundesgerichts. Dieser wird erst gegen Mittag erwartet.

Über 50 Grüne warten das Urteil im «Café Etoile Blanche» ab.
Grünen SchweizSpäte Ankunft von Tamara Funiciello und Katharina Prelicz-Huber
Während Richter François Chaix den Sachverhalt und die Positionen der involvierten Parteien erklärt, öffnet sich die Tür zum Gerichtssaal. Eine Gruppe um SP-Nationalrätin Tamara Funiciello und Grünen-Nationalratin Katharina Prelicz-Huber, die zum Kreis der Klägerinnen gehören, setzen sich auf einige der letzten freien Plätze im grossen Saal.

SP-Nationalrätin Tamara Funiciello zeigt in ihrer Instagram-Story, wie sie und unter anderem mit SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer am Bundesgericht eintreffen. Das Verfahren läuft bereits.
screenshot/InstagramWarum die Verhandlung öffentlich ist
Lorenz Kneubühler, der vorsitzende Bundesrichter, sagt zu Beginn der Verhandlung: «Für uns war von Anfang an klar, dass wir diese Beschwerden öffentlich beraten aufgrund des grossen öffentlichen Interesses.» Tatsächlich findet die Verhandlung vor fast vollem Saal und Tribünen statt.
Gegnerinnen protestieren vor dem Bundesgericht
Um zehn Uhr geht das Verfahren los. Vor dem Bundesgericht in Lausanne haben sich Gegnerinnen der AHV21-Reform mit Bannern versammelt, auf denen unter anderem «Erhöhen wir die Renten, nicht das Rentenalter!» steht.

Gegnerinnen vor dem Bundesgericht.
20min/dbaDas Interesse an der Verhandlung ist gross. Vor dem Eingang des Bundesgerichts hat sich eine lange Schlange gebildet. 20 Minuten ist ebenfalls vor Ort und berichtet live.
Abstimmungsbeschwerde: Warum es heute zum Showdown vor Bundesgericht kommt
Ab nächstem Jahr soll das Rentenalter der Frauen schrittweise von 64 auf 65 Jahre steigen. So hat das Stimmvolk vor zwei Jahren entschieden – mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,6 Prozent.
Das Ziel der Reform AHV 21 war es, die Finanzierung der ersten Säule der Altersvorsorge bis 2030 sicherzustellen. Dafür sollten die Frauen länger arbeiten und mehr Geld aus der Mehrwertsteuer in die AHV fliessen.

Die Befürworter der Rentenreform gewannen die AHV21-Abstimmung im September 2022 mit hauchdünnem Vorsprung. Ob es dabei bleibt, entscheidet heute das Bundesgericht.
IMAGO/Manuel GeisserDoch die Zahlen im Abstimmungsbüchlein stimmten nicht. Dies musste das Bundesamt für Sozialversicherungen diesen Sommer einräumen. Der Bund habe das AHV-Defizit um vier Milliarden Franken zu hoch ausgewiesen. Eine spätere Korrektur der Korrektur ergab, dass der Bund nur um zwei Milliarden Franken daneben lag.
Die vorläufig letzte Korrektur respektive Präzisierung folgte am letzten Freitag als das das zuständige Innendepartement einen Bericht veröffentlichte. Demnach führte nicht ein «Rechenfehler» zu den zu düsteren AHV-Prognosen, sondern Fehler im Modell oder den Annahmen, die ihm zugrunde liegen.

Lisa Mazzone, Präsidentin der Grünen, reist am Donnerstag als Beschwerdeführerin ans Bundesgericht nach Lausanne.
20min/Matthias SpicherAls Reaktion auf die fehlerhaften Zahlen reichten diverse Privatpersonen eine Beschwerde ein. Darunter diverse linke Politikerinnen wie Parteipräsidentin Lisa Mazzone (Grüne) oder Nationalrätin Tamara Funiciello (SP).
Heute Donnerstag entscheidet das Bundesgericht, ob die AHV-Abstimmung aufgrund der falschen Zahlen wiederholt werden muss. Dies wäre eine Premiere in der Geschichte der Schweiz. Die Beschwerdeführerinnen verfolgen die historische Verhandlung vor Ort.
Der Brisanz des Urteils ist sich auch das Bundesgericht selbst bewusst. Deshalb wurden die zwei amtsjüngsten Richter der rein männlich zusammengesetzten fünfköpfigen zuständigen Kammer ausgewechselt und durch zwei nebenamtliche Richterinnen ersetzt. Diese gehören der SP, beziehungsweise der Mitte an. Die drei Richter stammen aus SP, FDP und GLP, schreibt die NZZ.