«Auch die Schweiz hat bisher zu wenig getan»Corona-Experten appellieren an WHO, Aerosol-Gefahr nicht zu unterschätzen
Aerosole, diese winzig kleinen Tröpfchen, die wir beim Ausatmen von uns geben, spielen bei der Übertragung von Sars-CoV-2 eine grössere Rolle als anfangs gedacht. Das verlangt laut Experten Anpassungen.
Darum gehts
- Mehr als 200 Forscher verschiedener Fachrichtungen haben einen gemeinsamen Appell an die WHO gerichtet.
- Auch vier Schweizer Wissenschaftler sind darunter.
- Sie fordern eine Aktualisierung der Corona-Leitlinien.
- Der Grund: Die Aerosolübertragung sei darin bisher nicht ausreichend berücksichtigt.
Viel zu wenig sei bisher die Übertragung des neuartigen Coronavirus über Aerosole beachtet worden, monieren 239 Forscher verschiedenster Fachrichtungen in einem offenen Brief im Fachjournal «Clinical Infectious Diseases». Dabei lägen immer mehr wissenschaftliche Beweise vor, dass die weniger als fünf Mikrometer kleinen Tröpfchen – und damit auch darin gebundene Sars-CoV-2-Partikel – bei stehender Luft stundenlang in der Luft hängen bleiben. Auch die Schweizer Corona-Taskforce äusserte sich entsprechend.
«Wir beobachten sogar Wüstenstaub aus der Sahara mit dieser Grösse in der Schweiz. Das heisst in Innenräumen können sich solche Partikel verteilen und die Konzentrationen signifikant sein», sagt Andre Prevot, Professor am Paul-Scherrer-Institut in Villigen zu 20 Minuten. «Damit ist die Chance einer Ansteckung beträchtlich.» Der Leiter der Gruppe Gasphase and Aerosol Chemistry am PSI ist einer der 239 Wissenschaftler, die den an die Weltgesundheitsorganisation WHO gerichteten Appell unterzeichnet haben.
Drei Massnahmen mit grosser Wirkung
Um die Gefahr einer Übertragung mittels Aerosole so klein wie möglich zu halten, empfehlen die Fachleute, zu denen insgesamt vier Experten aus der Schweiz gehören, in Zukunft drei Massnahmen zu berücksichtigen:
Lüften, lüften, lüften
Auch bei Aerosolen gilt, «dass das Risiko mit der Distanz zwischen den Personen abnimmt», so Nino Künzli vom Schweizerischen Tropen-und Public Health Institut in Basel. Doch in Innenräumen «genügen die Abstandsregeln nicht», ergänzt Prevot. «Regelmässiges Lüften und/oder das Filtern der Raumluft wäre das Optimale.» Besonders in Grossraumbüros, in denen sich viele Menschen zeitgleich und in der Regel über mehrere Stunden aufhalten, sollte man so viel lüften wie möglich, «damit die Konzentration tief bleibt.»
Einen weiteren wichtigen Punkt nennt Dusan Licina, Assistenzprofessor an der EPFL und Experte für Luftqualität in Innenräumen: Da viele Räume heute mechanisch belüftet würden, «muss sichergestellt sein, dass die Luft nicht nur umgewälzt, sondern zu 100 Prozent von aussen zugeführt wird.» Das ist laut dem Bericht speziell in öffentlichen Gebäuden, Arbeitsumgebungen, Schulen, Spitälern und Altenheimen empfehlenswert.
Andernfalls könnten Klimaanlagen das Problem noch verschärfen, wie dies etwa im Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück der Fall war, in dem sich über 1500 Mitarbeiter mit Sars-CoV-2 infiziert hatten. Dort war die Luft, das zeigte eine Untersuchung von Martin Exner, Direktor des Hygiene-Instituts am Universitätsklinikum Bonn, ohne aufbereitet und ohne mit ausreichend Frischluft angereichert zu werden, zirkuliert.
Einsatz aktiver Technologien
Daneben empfehlen die 239 Autoren des offenen Briefs, die allgemeine Belüftung zu ergänzen, etwa durch lokale Absaugung der Luft. Doch das ist nicht alles, wie Licina erklärt: «Es gibt mehrere aktive Technologien, die zur Risikominderung beitragen könnten, darunter in Räumen hocheffiziente Luftfilterung und keimtötende ultraviolette Lampen.»
Menschenansammlungen vermeiden
Die dritte empfohlene Massnahme ist nicht technischer Natur. So sollte verhindert werden, dass sich zu viele Menschen zur selben Zeit an einem Ort aufhalten. Zudem sollte man immer die Abstandsregel von 1,5 Meter einhalten. «Ist das nicht möglich ist das Tragen von Masken essentiell», so Athanasios Nenes, Professor für Laboratorium für atmosphärische Prozesse und ihre Auswirkungen an der EPFL. Das gelte insbesondere im ÖV sowie in öffentlichen Gebäuden.
Dies zusätzlich zu anderen Massnahmen wie etwa Händewaschen, ergänzt Nenes. Für Büros empfiehlt er zudem die Desinfektion von Oberflächen – genauso wie Heimarbeit: «Sofern es sich mit dem Job vereinbaren lässt, ist das Homeoffice nach wie vor die beste Option, um das Infektionsrisiko zu senken.»
Hier spielten Aerosole eine Rolle
Dass in gut gefüllten Innenräumen ein grosses Ansteckungsrisiko besteht, bestätigten zuletzt mehrere Ausbrüche in Clubs, Schlachtbetrieben, Kirchen, Restaurants und in Grossraumbüros. Diese zeigten, dass eine einzelne infizierte Person in einem schlecht vorbereiteten Innenraum im Laufe der Zeit genug aerosolisiertes Virus freisetzen kann, um einen Superspreader-Event auslösen.
Auch die Schweiz hat Aufholbedarf
Weltweit, aber auch in der Schweiz sei bisher bezüglich des Infektionsrisikos durch Aerosole zu wenig passiert, so Nenes: «Es wurde zu wenig getan, um die Chancen einer Übertragung des Virus durch Aerosole zu verringern.» Die jüngste Entscheidung, Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln vorzuschreiben, sei ein guter «und längst überfälliger» – erster Schritt. «Dieses Mandat sollte nun auf alle öffentlichen Innenräume ausgedehnt werden.»
Dieser Meinung ist auch Licina: Besonders in Bürogebäuden, in denen viele Menschen den grössten Teil ihrer Zeit verbrächten, wurde bisher relativ wenig getan. «Zusätzlich zu den Empfehlungen, Masken zu tragen, müssen wir dort weitere Kontrollen einführen. Masken sind die allerletzte Verteidigungslinie, wenn es um die Übertragung von Aerosolen geht.» Wichtiger sei es, zu überdenken, wie man die Gebäude gestaltet und betreibt.
Die WHO hat angekündigt, in den nächsten Tagen ausführlich auf den offenen Brief zu reagieren. Derweil betont sie, dass es ein «umfassendes Paket von Massnahmen» nötig ist, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 stoppen zu können:
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