Jeder kann zum Superspreader werden

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Vorsicht ist angesagtWirklich jeder kann zum Superspreader werden

Zwei Corona-Ausbrüche in der Schweiz sind auf einen Superspreader zurückzuführen. Doch wann wird man zur menschlichen Virenschleuder?

In der Tesla-Bar in Spreitenbach haben sich über 20 Personen mit Corona infiziert. Knapp die Hälfte wohnt im Kanton Aargau.
In der Bar befanden sich rund 100 Personen.
Laut dem Kanton Aargau besteht ein Zusammenhang mit dem «Superspreader»-Event im Zürcher Club Flamingo.
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In der Tesla-Bar in Spreitenbach haben sich über 20 Personen mit Corona infiziert. Knapp die Hälfte wohnt im Kanton Aargau.

Foto: gus

Darum gehts

  • Nach Zürich kam es auch in Spreitenbach zu einem grösseren Corona-Ausbruch.
  • In beiden Fällen steckten sich mehrere Personen bei einem Superspreader an.
  • Zu einem solchen kann praktisch jeder mutieren.
  • Verantwortlich dafür sind neben der Person auch ihr Verhalten und die Umstände.

Was ist ein Superspreader?

Superspreader sind nichts anderes als Virenschleudern. So bezeichnen Epidemiologen Menschen, die infiziert sind und besonders viele Menschen anstecken – so wie dies im Juni 2020 in Zürich und Spreitenbach geschehen ist (siehe Bildstrecke). Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass Superspreader eine möglicherweise entscheidende Rolle bei der Ausbreitung des Coronavirus spielen. Dem «Wall Street Journal» sagte Hendrik Streeck, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, die meisten Fälle weltweit, speziell die meisten Toten, seien auf Superspreader zurückzuführen.

Sind Superspreader ein neues Phänomen?

Nein. Dass einzelne Personen zu Brandbeschleunigern bei Epidemien werden, ist nicht neu; ähnliche Ereignisse gab es in der Geschichte bei vielen Seuchen, unter anderem auch bei den Coronaviren-Epidemien durch Sars und Mers.

Wer kann Superspreader werden?

Jeder Infizierte kann zum Superspreader werden. In den meisten Fällen liegt es nicht an den Menschen selbst, sondern an den Umständen – weil er im falschen Moment mit vielen Menschen Kontakt hatte. Zu vielen Ansteckungen kommt es bei sogenannten Superspreading-Events.

Bekannte Superspreading-Events

Bei solchen Events handelt es sich laut dem Infektionsepidemiologen Jürgen May vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg um Ereignisse, die «zeitlich und räumlich» begrenzt sind, bei denen viele Infektionen auf eine oder sehr wenige Personen zurückgehen.

Eines der ersten bekannten Superspreading-Events ist wohl die rasante Infektionshäufung im österreichischen Ischgl. Doch auch die folgenschwere Karnevalsfeier im deutschen Heinsberg, der Gottesdienst in Frankfurt am Main und die Grossfamilienfeiern in Göttingen gelten als solche. Auch die zahlreichen Ansteckungen in Clubs oder nach einer Zumba-Stunde im südkoreanischen Seoul sowie weltweit in Schlachtereien gehören dazu. In Grossraumbüros und in Restaurants kam es ebenfalls schon zu Superspreading-Events.

Welche Umstände machen einen Infizierten zum Superspreader?

Die Auflistung bisheriger Superspreading-Events zeigt: Den einen Umstand gibt es nicht. Es greifen offenbar mehrere Faktoren ineinander. Welche dabei die entscheidenden sind, ist derzeit noch offen. Sicher ist aber, dass jede Menschenansammlung ein Risiko darstellt: «Mit jeder Person, die zu einer Menschenansammlung hinzukommt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Superspreading-Event entstehen kann», sagt Infektionsepidemiologe May gegenüber Quarks.de. Die Gefahr ist umso grösser, wenn sich Menschen in Innenräumen begegnen.

«Mit jeder Person erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Superspreading-Event entstehen kann.»

Infektionsepidemiologe Jürgen May

Wieso sind Superspreader vor allem in Innenräumen aktiv?

Das liegt einerseits daran, dass die Platzverhältnisse beengter sind und man weniger gut auf Abstand gehen kann. Andererseits, weil – darauf deuten immer mehr Studien und Ereignisse hin – Aerosole eine zentrale Rolle bei der Ausbreitung von Sars-CoV-2 spielen. Das sind wenige Mikrometer grosse Tröpfchen, die wir schon beim Atmen und Sprechen ausstossen. Grössere Tröpfchen dagegen werden erst beim Niesen oder Husten ausgestossen. In diesen können Viren über längere Zeit – laut US-Forschern über Stunden – in der Luft schweben und andere Menschen infizieren.

Virologe Christian Drosten geht davon aus, dass rund die Hälfte aller Covid-19-Infektionen auf Aerosole zurückzuführen sei. Möglicherweise kann das in ihnen gebundene Virus auch dann übertragen werden, wenn der Mindestabstand eingehalten wird. Darauf deutet unter anderem ein Superspreader-Event bei einer Chorprobe in den USA hin. Von 61 Teilnehmern erkrankten 53 Personen, zwei verstarben an den Folgen von Covid-19.

Die hohe Infektionsrate könnte laut einer Veröffentlichung im Fachjournal «Science» aber auch darauf zurückzuführen sein, dass Sänger besonders stark und tief atmen – etwas, das auch Clubgänger und Barbesucher tun, wenn sie mitsingen und tanzen oder wenn sie gegen die laute Musik ansprechen. Das – und dass Menschen den Abstand nicht wahren – macht Bars und Clubs zu absoluten Hochrisikozonen, wie die Aargauer Kantonsärztin Yvonne Hummel zu 20 Minuten sagte.

Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera zeigten US-Forscher im Jahr 2014, wie sich beim Niesen ausgestossene Tröpfchen im Raum verteilen.

Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera zeigten US-Forscher im Jahr 2014, wie sich beim Niesen ausgestossene Tröpfchen im Raum verteilen.

Foto: MIT

Welche Rolle spielen Klimaanlagen?

Zwar können professionell installierte und gewartete Lüftungs- und Klimaanlagen dafür sorgen, «dass alle vorliegenden Belastungen in der Raumluft verdünnt werden» wodurch «die Gefahr einer möglichen Übertragung von Viren durch Aerosole gemindert» wird, zitiert Quarks.de Dirk Müller, Professor für Gebäude und Raumklimatechnik an der RWTH Aachen. Ein Abschalten der Anlagen könne allerdings zu einer Erhöhung der Konzentration von Viren in der Atemluft führen.

Martin Exner vom Bonner Hygiene-Institut bezeichnet Klimaanlagen gegenüber Tagesschau.de gar als einen weiteren, bislang übersehenen Risikofaktor. Er hatte im Auftrag des Kreises Gütersloh untersucht, wie sich innerhalb kürzester Zeit mehr als 1500 Mitarbeiter im Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück mit Sars-CoV-2 infizieren konnten. Eine wichtige Rolle hätte dabei das vorgefundene Belüftungssystem gespielt, so sein Fazit: In diesem habe die Luft, ohne aufbereitet und ohne mit ausreichend Frischluft angereichert zu werden, zirkuliert.

Bestätigt wird das durch Erkenntnisse aus China: Dort hatte in einem Restaurant in der Stadt Guangzhou eine einzelne infizierte Person gleich mehrere andere Personen angesteckt – sogar an den Nachbartischen. Dies, weil die Klimaanlage einen starken, kreisförmigen Luftstrom erzeugt hatte, der kleine Tröpfchen mit Coronaviren von Tisch zu Tisch transportieren konnte.

Weiteres Problem bei Klimaanlagen: Bei kühleren Temperaturen breiten sich Viren grundsätzlich schneller aus. Da ist auch ein Grund, warum Experten befürchten, dass die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus im Herbst an Fahrt aufnehmen dürfte. Besser wäre regelmässiges Lüften, um die Aerosole zu verdünnen. Aber das ist nicht überall möglich.

Spielt der Faktor Mensch überhaupt keine Rolle?

Doch. Allerdings ist diese wissenschaftlich noch nicht endgültig geklärt. Sicher ist aber: Bestimmte Menschen verbreiten mehr und länger Viren als andere. Möglicherweise hängt dies mit ihrem Immunsystem oder auch mit der Verteilung von Virusrezeptoren in ihrem Körper zusammen. Es könnte aber auch daran liegen, dass sie eine höhere Viruslast haben und entsprechend mehr weitergeben können. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihr Verhalten sie zu Superspreadern macht – etwa durch Zu-wenig-Abstand-Halten, lautes Sprechen und Lachen. Auch der Konsum von Alkohol dürfte eine Rolle spielen. Laut verschiedenen Berichten verstossen Menschen leichter gegen die Corona-Schutznassnahmen, wenn sie unter Alkoholeinfluss stehen.

Verhindere ich, zum Superspreader zu werden, wenn ich bei Unwohlsein zu Hause bleibe?

Nein! Ein Infizierter ist schon dann hochansteckend, bevor die ersten Symptome auftreten, wie Forscher aus China im Fachjournal «Nature Medicine» berichten. In dieser Phase scheint die Virenlast im Rachen besonders hoch zu sein. Allerdings haben viele Infizierte keine oder kaum Symptome und merken deshalb gar nicht, dass sie sich angesteckt haben und selber ansteckend sind.

Die harte Realität ist, dass dies noch nicht einmal annähernd vorbei ist.

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus

Wie lassen sich Superspreading-Events verhindern?

Aufgrund der noch vielen Unbekannten gar nicht. Aber man kann das Risiko deutlich reduzieren – indem man sich so viel wie möglich draussen aufhält, wo die Infektionsgefahr geringer ist. Weiterhin sollte man eine gute Handhygiene praktizieren, ausreichend Abstand halten und – sofern das nicht möglich ist – eine Maske tragen, auch wenn man sich gesund fühlt. «Dieses Bündel an Massnahmen», erklärte Heinz H. Hirsch vom Universitätsspital Basel gegenüber 20 Minuten, «hat zu einer beeindruckenden Abnahme der Neuinfektionen geführt.» Zusätzlich spielt auch regelmässiges und gutes Lüften eine wichtige Rolle.

Auch wenn es je länger, umso schwerer fällt, sei das wichtig, so WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Montag: «Wir alle wollen, dass es vorbei ist. Wir alle wollen mit unserem Leben weitermachen. Aber die harte Realität ist, dass es noch nicht einmal annähernd vorbei ist.» Denn: «Obwohl viele Länder einige Fortschritte gemacht haben, beschleunigt sich die Pandemie weltweit sogar noch.»

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