Corona-KrisenstabSteckt in den RKI-Files wirklich ein Skandal?
Auf Social Media trendet der Hashtag #RKIfiles. Dabei geht es um Protokolle des Robert-Koch-Instituts, die von einem alternativen Magazin freigeklagt und veröffentlicht wurden. Sie enthalten angeblich Skandalöses.

Die Krisenstabssitzung vom 16. März 2020, auf deren Protokoll sich das Onlinemagazin «Multipolar» bezieht, wurde vom damaligen RKI-Vizepräsidenten Lars Schaade moderiert. Auch der damalige RKI-Präsident Lothar Wieler (rechts) nahm daran teil.
Getty ImagesDarum gehts
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat Protokolle seines Corona-Krisenstabs veröffentlicht.
Das Corona-skeptische Onlinemagazin «Multipolar» hatte die Veröffentlichung eingeklagt.
Laut dem Portal zeigen die RKI-Files, dass die Risikobewertung im März 2020 auf politische Anweisung erfolgte.
Das lässt sich aus den Protokollen so nicht entnehmen.
Die sogenannten RKI-Files sorgen derzeit für Aufregung, vor allem in den sozialen Medien. Auch einige Medien haben das Thema aufgegriffen. Zum Thema gemacht wurden sie von dem Onlinemagazin «Multipolar». Es gilt als der Corona-Skeptiker-Szene nahestehend und veröffentlichte seit seiner Gründung im Januar 2020 regelmässig kritische Artikel zu den Corona-Massnahmen und -Impfstoffen. «Multipolar» wird von den deutschen Autoren Paul Schreyer und Stefan Korinth betrieben. Schreyer veröffentlichte unter anderem drei Bücher mit Verschwörungstheorien zu den Anschlägen am 11. September 2001 und gilt als Putin- und russlandfreundlich. Korinth ist ein erklärter Gegner der Corona-Schutzregelungen.
Was sind die RKI-Files?
Bei den RKI-Files handelt es sich um rund 450 Protokolle des deutschen Robert-Koch-Instituts aus sogenannten Krisenstabs- und CoV-Sitzungen aus der Anfangszeit der Covid-Pandemie. Das erste stammt vom 14. Januar 2020, das letzte vom 30. April 2021. Die Dokumente waren «nur für den Dienstgebrauch» gedacht, wie es in der Kopfzeile heisst. Diese Einstufung sei aber am «11.01.23 durch VPräs» aufgehoben worden. Laut RKI handelt es sich dabei um «Zusammenfassungen von Diskussionen, die innerhalb des Covid-19-Krisenstabs des RKI stattgefunden haben». Diese spiegelten den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider, in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen werden.
Darum sorgen die RKI-Files für Aufregung
Das «Multipolar» hatte auf die Herausgabe der Protokolle geklagt und sie nach der Freigabe veröffentlicht. In einem Artikel vom 18. März 2024 behauptet das Portal, die RKI-Files würden zeigen, dass «die im März 2020 verkündete Verschärfung der Risikobewertung [in Deutschland] von ‹mässig› auf ‹hoch› (...), anders als bislang behauptet, nicht auf einer fachlichen Einschätzung des RKI, sondern auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs» erfolgte. Es geht um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik.

Punkt 3 im Ergebnisprotokoll der Krisenstabssitzung vom 16. März soll angeblich zeigen, dass die Entscheidung, die Risikobewertung hochzustufen, nicht aufgrund der fachlichen Einschätzung des RKI, sondern auf politische Anweisung eines externen Akteurs geschah. Allerdings lässt sich das aus den Protokollen so nicht entnehmen. (Im Bild: Screenshot des Ergebnisprotokolls der Krisenstabssitzung vom 16. März.)
Screenshot RKIRKI-Protokolle stützten Behauptung des Portals nicht
Die Behauptung stützt sich auf das Ergebnisprotokoll der Krisenstabssitzung vom 16. März. Darin heisst es dazu: «Am [Wochenende] wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald [Anm. d. Red: Name geschwärzt] ein Signal dafür gibt.»
Laut dem Portal handelt es sich bei dem geschwärzten Namen um eine externe Person aus der Politik. Doch dafür liefert das Protokoll keine Anhaltspunkte. Es kann sich praktisch um jeden handeln. In einer Stellungnahme vom 25. März 2024 gibt das RKI an, «dass hinter der Schwärzung in dem Satz [...] ein RKI-Mitarbeiter steht». Laut Markus Grill aus dem Investigativ-Ressort von NDR und WDR soll es sich dabei um den Vizepräsidenten des RKI, Lars Schaade, handeln. «Schwärzungen von Namen bei Herausgabe interner Protokolle an die Öffentlichkeit sind üblich und dienen dem Schutz der Mitarbeitenden», so das RKI.
Auch eine weitere Folgerung von «Multipolar» nicht zulässig
Das ist nicht die einzige Behauptung, die «Multipolar» aufstellt. Weiter heisst es dort, die Hochstufung sei abrupt erfolgt, «ohne dokumentierten Diskussions- und Beratungsprozess» und «ohne jede Andeutung in den vorhergehenden Protokollen und ohne dass grundlegende Kennzahlen sich massgeblich geändert hätten».
Dieser Schluss ist laut Hajo Zeeb fragwürdig: Die Zahl der Corona-Infektionen sei im März 2020 rasant angestiegen, so der Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen gegenüber Tagesschau.de. Die täglichen Lageberichte des RKI bestätigen das: Waren am 4. März 2020 (PDF) erst 262 Fälle in Deutschland gemeldet worden, sind es am Tag der RKI-Krisenstabssitzung am 16. März kumuliert bereits 6012 bestätigte Fälle gewesen (PDF). Fachleute gingen von einer hohen Dunkelziffer aus.
«So ein Anstieg innerhalb so kurzer Zeit ist substanziell, auch wenn es nicht nach viel klingt.»
Auch für Emanuel Wyler vom Max Delbrück Center für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin kam die Entscheidung des RKI «eigentlich nicht überraschend». Zwar wurde ab Mitte März auch mehr getestet, jedoch stieg auch die Positivrate in Deutschland innerhalb von einer Woche um gut einen Prozentpunkt an. Mit dieser bezeichnet man den prozentualen Anteil an durchgeführten, positiven Tests. «So ein Anstieg innerhalb so kurzer Zeit ist substanziell, auch wenn es nicht nach viel klingt», sagt Zeeb.
Reaktion auf beängstigenden Anstieg der Fallzahlen
Auch weltweit stiegen damals die Fallzahlen. Berichtete die Weltgesundheitsorganisation WHO am 7. März 2020 noch, dass die bestätigten Covid-19-Fälle weltweit die 100’000-Marke überschritten hätten, sprach sie in ihrem Situation-Report vom 16. März (PDF) von weltweit 167’515 bestätigten Fällen sowie von 6606 Todesfällen. Fünf Tage zuvor hatte die WHO Covid-19 bereits zur Pandemie erklärt.

Im RKI-Protokoll wird auf die damalige Corona-Situation in anderen Ländern hingewiesen. (Im Bild: Screenshot des Ergebnisprotokolls der Krisenstabssitzung vom 16. März.)
Screenshot RKIAngesichts der steigenden Zahlen weltweit, reagierte damals nicht nur Deutschland. Dem von «Multipolar» beanstandeten Protokoll ist zu entnehmen, dass bereits im Tessin «besondere Massnahmen» beschlossen worden seien: Etwa «nur noch Lebensmittelgeschäfte und Apotheken sind geöffnet; keine Gottesdienste mehr; Begräbnisse nur noch im engsten Familienkreis; Schalter der kantonalen Verwaltung geschlossen; Senioren sollen öffentliche Ort meiden und bei Spaziergängen Abstand halten». Am 15. März gab es in der Schweiz 1563 bestätigte Fälle.

Anfang März lancierte das BAG die Kampagne «So schützen wir uns».
BAGAuch in anderen Ländern traten in diesem Zeitraum Lockdowns in Kraft:
Italien: 12. März (erste Gebiete wurden bereits am 23. Februar abgeriegelt)
Belgien: 13. März
Niederlande: 15. März
Frankreich: 15. März
Österreich: 16. März
Spanien: 16. März
Schweiz: 17. März (im Tessin bereits ab 12. März)
Grossbritannien: 26. März
Das RKI hat die Empfehlung zur Hochstufung also nicht im luftleeren Raum ausgesprochen, sondern im Einklang mit anderen Ländern auf die bedrohliche Lage in ganz Europa reagiert.
Kontroverse um Schutzmasken
In den sozialen Medien wird auch ein weiterer vermeintlich brisanter Eintrag im Protokoll diskutiert. Am 30. Oktober 2020 vermerkte das RKI: «Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken ausserhalb des Arbeitsschutzes.» Das könne man auch der Öffentlichkeit mitteilen, heisst es. Von Corona-Skeptikerinnen und -Skeptikern wird die Aussage so ausgelegt, dass das RKI damals Masken für nutzlos gehalten hätte.

Auch die Notiz «Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken ausserhalb des Arbeitsschutzes» wurde missinterpretiert. (Im Bild: Screenshot des Ergebnisprotokolls der Krisenstabssitzung vom 16. März.)
Screenshot RKIDiese Interpretation ist falsch. Laut dem Epidemiologen Zeeb gab es zu diesem Zeitpunkt zwar tatsächlich keine Beweise für einen garantierten Nutzen von FFP2-Masken gegen eine Übertragung des Coronavirus. «Bis von einer wissenschaftlichen Evidenz ausgegangen werden kann, vergeht viel Zeit», sagte er der «Tagesschau» von ARD. Man habe aber gewusst, dass eine Maske bei einem Virus, das durch Aerosole und Tröpfchen übertragen wird, zu einem gewissen Mass helfe.
Auch sprachen etwa Erfahrungen aus den Zeiten der Spanischen Grippe von 1918 für die Wirksamkeit der Maske. Bereits wenige Monate nach dem Protokolleintrag belegten dann erste Studien, dass FFP2-Masken schützen, und zwar deutlich besser als Hygiene-Masken, wenn sie richtig getragen werden.
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