SchweizDem Bettler ein Sandwich geben statt Geld – ist das übergriffig?
Bettler wollen Geld. Doch manche Leute geben lieber Essen. Fachleute sagen, ob das übergriffig ist oder nicht.
Iris (52), Matthias (42) und Isabella (33) sagen im Gespräch mit 20 Minuten, ob sie lieber Geld oder Essen haben, und warum.
Video: 20min/Thomas SennhauserDarum gehts
Suchtkranken Menschen Essen statt Geld zu geben, sei passiv-aggressiv, schreibt ein Twitter-User.
Betroffene sagen, dass sie beides gerne nehmen. Allerdings sagen sie auch, dass sie auf Geld angewiesen sind für Drogen und Zigaretten.
Es komme generell darauf an, mit welcher Haltung man etwas gebe, sagen ein Gassenarbeiter und ein Armutsforscher.
«Suchtkranken Menschen statt Geld für Drogen ein Sandwich in die Hand zu drücken, ist das Vorzeigebeispiel bürgerlicher Passivaggressivität», das schrieb vor einiger Zeit ein Twitter-User.
Wird das auch von Betroffenen so wahrgenommen? «Wenn ich nach Geld frage, geben mir die Leute eher Geld, wenn ich nach Essen frage, geben sie mir Essen», sagt Matthias (42), der häufig bei der Sihlpost in Zürich bettelt. Er sei froh um beides, weil das Essen in seiner Unterkunft nicht so gut sei. Deshalb nimmt er gern auch Essen, und wenn möglich kauft er etwas beim Brezelkönig.
Iris (52) braucht das Geld für Drogen. Sie ist seit 33 Jahren suchtkrank. Doch auch beim Essen sage sie nicht Nein. Wenn es gut sei, nehme sie es gern, etwa von McDonalds. Doch eben: Am Ende des Tages ist sie froh, wenn sie das Geld zusammen hat. Sie fragt die Passanten «Haben Sie mir ein bisschen Münz?» oder «Haben Sie mir ein paar Franken?»
Auch Isabella (33), die aus Ungarn stammt, nimmt beides gern, wie sie im Gespräch mit 20 Minuten sagt.
Ist Essen geben also passiv-aggressiv? «Das ist ein wenig krass formuliert», sagt Michel Steiner, Gassenarbeiter und Co-Geschäftsführer des Basler Vereins für Gassenarbeit «Schwarzer Peter». Der Verein habe grundsätzlich die Haltung, dass Menschen mit dem, was sie erbetteln, machen sollen, was sie für sich als notwendig erachten. «So, wie ich ja auch selber entscheide, ob ich Vollkornmüesli oder Alkohol kaufe», sagt Steiner. «Der Respekt vor der Menschenwürde gebietet es, dass Bettler selber entscheiden dürfen, wie sie ihr Geld einsetzen.»
Entscheidend sei aber nicht, was man gibt, sondern mit welcher Haltung. «Vielleicht hat der Bettler schon fünf Sandwiches gehabt an diesem Vormittag. Es kann aber auch sein, dass er Hunger hat. Deshalb macht es Sinn, ihn zuerst zu fragen, ob er ein Sandwich möchte, statt ihm einfach eines in die Hand zu drücken.» Es gelte, dem Bettler auf Augenhöhe zu begegnen und auch sich selber ernst zu nehmen. Wenn man einmal nichts oder kein Geld geben will, dann sei das in Ordnung. «Beide sollen ihre Würde behalten, der Bettler wie auch der Passant», sagt Michel Steiner.
«Bettelnde spiegeln unsere eigene Abhängigkeit»
Soziologe Ueli Mäder, der zum Thema Armut geforscht hat, sagt: «Wenn das Sandwich erzieherisch gemeint ist, kann es versteckt aggressiv sein. Auch selbst-aggressiv.» Suchtkranke spiegelten unsere eigene Abhängigkeit, sagt Mäder. «Wir kennen alle den Drang nach immer mehr Arbeit, Geld, Konsum. Trotz Überlastung von Mensch und Umwelt ist genug nie genug.»
Auch Mäder sagt, es sei spontan nachvollziehbar, wenn jemand lieber ein Sandwich gibt, und überhaupt nicht schlimm. «Die Frage ist mehr, mit welcher Einstellung man das macht. Ob man bereit ist, Bettelnden freundlich zu begegnen.»
Ist es in Ordnung, Essen statt Geld zu geben?
Das erzieherische Element, das beim Sandwich möglicherweise mitspielt, sei ein Mechanismus, der nicht nur gegenüber Bettelnden zu beobachten sei, sagt Ueli Mäder. «Die heutige konkurrenz- und geldorientierte Kultur ist geprägt dadurch, dass man sich stark vergleicht und versucht, besser, cleverer und durchsetzungsstärker als andere zu sein. Entsprechend streng urteilt man bei Leuten, die sich total abseits dieser Mechanismen bewegen.»
Er selber begegne Suchtkranken oft unbeholfen und gebe ab und zu Geld. «Vielleicht, weil mich ihr Schicksal berührt und Almosen mich entlasten.»
Lebst du oder lebt jemand, den du kennst, in Armut?
Hier findest du Hilfe:
Tischlein deck dich, Lebensmittelhilfe
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