Im Gespräch mit Kommentar-Moderator*innen«Einer wünschte allen Schwulen den Tod!»
Zwischen 10’000 und 15’000 Kommentare gehen täglich auf 20min.ch ein und werden von einem Team von Kommentar-Moderator*innen geprüft. Zwei davon erzählen von ihrer Arbeit.
Darum gehts
Erzählt uns von eurer Arbeit. Was macht ihr als Kommentar-Moderator*in?
Birgit: Wir erhalten alle Kommentare, die auf 20min.ch gesetzt werden, im Sekundentakt zugespielt und müssen entscheiden, ob sie den Richtlinien entsprechen und publiziert werden können. Ich arbeite in mehreren Schichten, insgesamt zwölf Stunden pro Woche.
Severin*: Ein intelligenter Algorithmus, der grenzwertige Kommentare von vornherein ausfiltert, erleichtert uns zudem die Arbeit. Auch ich arbeite zwölf Stunden die Woche, verteilt auf vier Tage.
Wie viele Kommentare bearbeitet ihr pro Schicht und wie rasch müsst ihr euch entscheiden?
Birgit: Die meisten Schichten dauern zwei Stunden. Während dieser Zeit schaffe ich zwischen 1000 und 1300 Kommentare, je nachdem, wie lang sie sind. Pro Kommentar bleiben uns also nur wenige Sekunden Zeit.
Severin: In einer zweistündigen Schicht schaffe ich ein paar Hundert Kommentare. Diese Zahl hängt aber sehr von der Frequenz ab.
Was findest du spannend an dem Job?
Birgit: Mich fasziniert es, zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen auf die gleiche Thematik reagieren – und wie doch immer wieder gewisse Regelmässigkeiten auftauchen. Insbesondere beim Thema Corona ist dies der Fall. Für unsere Arbeit braucht es ein gutes Allgemeinwissen, da Kommentare zu den verschiedensten Themen abgesetzt werden. Gerade diese Themenvielfalt macht sie jedoch so abwechslungsreich.
Was ist herausfordernd oder gar schwierig?
Birgit: Wenn Leser*innen zu Themen, die mir wichtig sind, diskriminierende Kommentare schreiben, dann tut mir das weh. Insbesondere bei LGBTQI-Themen oder wenn es um Tiere oder Krankheiten wie Krebs oder Depressionen geht, ist dies der Fall.
Severin: Wenn sich Themen oder Argumente ständig wiederholen, kann der Job etwas langweilig werden. Mühsam wird er, wenn ich merke, dass Leute keinen moralischen Kompass besitzen. Unsere Arbeit erfordert zudem eine enorme Konzentration: Schlechte Tage und Schlafmanko liegen fast nicht drin.
Wie kommentieren die User*innen? Welche Beobachtungen habt ihr gemacht?
Birgit: Viele Leser*innen kennen die Netiquette und tun ihre Meinung auf akzeptable Weise kund. Andere jedoch versuchen mit allen Mitteln, ihre dummen Ansichten zu verbreiten: Indem sie etwa ihren Kommentar zwanzig Mal abgeben in der Hoffnung, dass er durchrutscht. Oder indem sie Wörter bewusst falsch schreiben, damit der Algorithmus oder wir ihn nicht herausfiltern.
Severin: Grundsätzlich denke ich, dass die Hemmschwelle gesunken ist – sicherlich auch seit der Corona-Krise. Es fällt auf, dass sich seit Beginn der Pandemie mehr Leute zu Wort melden, die vorher nicht kommentiert haben.
Was löst das in euch aus, wenn ihr auf schwierige Kommentare stösst?
Birgit: Ich arbeite weiter, denn die Kommentarflut stoppt nicht. Nach dem Dienst kann es aber passieren, dass mir manche Äusserungen in den Sinn kommen – und ich länger darüber nachdenke. Ich frage mich dann etwa: Wie kommt man auf die Idee, so etwas zu posten? Sind diese Menschen im echten Leben auch so drauf? Was ist bei denen schief gelaufen?
Severin: Ich habe Tage, an denen es mir gar nichts ausmacht, und andere, an denen mir die Hasskommentare im Unterbewusstsein hängen bleiben. An den Wortlaut der einzelnen Kommentare erinnere ich mich nach der Schicht oft nicht mehr, denn die Kommentarfülle ist hoch. Doch hallt manchmal unterschwellig ein ungutes Gefühl nach.
Was macht ihr, um runterzukommen?
Birgit: Um abzuschalten oder meine Gedanken zu ordnen, gehe ich mit meinen Hunden spazieren.
Severin: Ich meditiere sehr viel. Das hilft mir, meine Mitte zu finden und zu behalten.
Was waren die schlimmsten Kommentare überhaupt?
Birgit: Im Zusammenhang mit der «Ehe für alle» wünschte mal jemand allen Queers den Tod: «Scheiss Nutten, Scheiss Lesben, Scheiss Schwule, alle in die Gaskammer und ohne Mitleid kremieren.» Dann gab es einen Kommentar zum Todesfall am Filmset von Eric Baldwin, der lautete: «Gut, ist die weg – eine Schlampe weniger auf der Welt.» Wenn ich so etwas lese, fehlen mir die Worte.
Severin: Verschiedene Leser*innen schrieben mal: «Man muss die Leute alle mit dem Flammenwerfer töten», «Sie alle in die Gaskammer schicken und sofort erschiessen.» So etwas ist schon krass.
Verliert ihr dabei manchmal nicht den Glauben an das Gute im Menschen?
Birgit: Die grosse Anzahl an Hasskommentaren zeigt, dass eine konstruktive Gesprächskultur oft nicht möglich ist. Die Leute scheinen frustriert zu sein, sie greifen einander an, der Gesprächston ist rau. Ist es fehlende Empathie? Egoismus? Ich weiss es nicht.
Severin: Manchmal werde ich wütend und finde: Himmel, besinnt euch! Und wenn es ganz schlimm ist, denke ich: Diese Leute sind verloren. Oder gar: Wir alle sind verloren. Aber dann wird mir wieder bewusst, dass es nur eine Blase ist.
* Name geändert

Täglich finden in unserer Kommentarspalte Hunderte von Diskussionen statt. Was ist dort eigentlich zugelassen – was ist ein No-go? In unserer Artikelserie «Wir müssen reden» beleuchten wir verschiedene Arten von Hatespeech.
Folge 1: Sexismus gegen Frauen
Folge 2: Antisemitismus
Folge 3: Queerfeindlichkeit
Folge 4: Muslimfeindlichkeit
Folge 5: Rassismus
Folge 6: Hass gegen Journalist*innen
Folge 7: Interview mit Kommentar-Moderator*innen
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von Rassismus betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Beratungsnetz für Rassismusopfer
GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
LGBTIQ: Hast du Fragen oder Probleme?
Hier findest du Hilfe:
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Du-bist-du.ch, Beratung und Information
Lilli.ch, Information und Verzeichnis von Beratungsstellen
Milchjugend, Übersicht von Jugendgruppen
Elternberatung, Tel. 058 261 61 61
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147