«Ich bin mitschuldig, dass mein Sohn sexuell misshandelt wurde»

Aktualisiert

Sexuelle Gewalt an Kindern«Ich bin mitschuldig, dass mein Sohn sexuell misshandelt wurde»

Erst als es zum Gerichtsprozess kam, erfuhr Sandra*, dass ihr Sohn von ihrem besten Freund misshandelt wurde. Jahrelang hatte sie weggehört und die Taten nicht wahrhaben wollen.

«Ich habe es überhört, verdrängt!», sagt Sandra. Erst Jahre später erfährt sie, dass ihr bester Freund ihren Sohn sexuell ausgebeutet hatte.
«Hans war sehr kinderfreundlich. Meine Kinder liebten ihn», sagt Sandra.  Erst 15 Jahre später erfuhr die Mutter bei der Durchsicht der Polizeiakte, dass ihr Sohn Marcel bei Hans nicht nur Filme geschaut und Hausaufgaben gemacht hatte. (Symbolbild)
Sie versank in Selbstvorwürfen. «Ich war sehr traurig über die verlorene Kindheit meines Sohnes», sagt Sandra.  «Ich befürchtete, als Mutter versagt zu haben, und ich hatte immer wieder Angst, dass mein Sohn sich etwas antun könnte.»  (Symbolbild)
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«Ich habe es überhört, verdrängt!», sagt Sandra. Erst Jahre später erfährt sie, dass ihr bester Freund ihren Sohn sexuell ausgebeutet hatte.

20 Minuten

Darum gehts

  • Sandras bester Freund misshandelte über Jahre ihren Sohn sexuell.

  • Zwei Jahre nach den ersten Übergriffen versuchte Marcel, sich seiner Mutter anzuvertrauen. Doch sie überhörte die Andeutungen.

  • Als Sandra Jahre später die Polizeiakten liest und erfährt, was ihrem Sohn angetan wurde, bricht eine Welt für sie zusammen.

«Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, als ich erfahren habe, dass mein Sohn jahrelang von meinem guten Freund Hans* sexuell misshandelt wurde», sagt Sandra. Marcel* war acht Jahre alt, als Hans sich das erste Mal am Buben verging. «Er war ein Jugendfreund und oft bei uns. Er war sehr kinderfreundlich. Meine Kinder liebten ihn.» Auch den Schwestern schenkte er viel Aufmerksamkeit – doch nur Marcel durfte ihn daheim besuchen, um Videos zu schauen. Als alleinerziehende berufstätige Mutter war Sandra für die Betreuung dankbar.

Dass Marcel bei Hans nicht nur Filme geschaut und Hausaufgaben gemacht hatte, erfuhr die Mutter erst 15 Jahre später bei der Durchsicht der Polizeiakte: Hans bedrohte ihren Sohn, zog ihn aus, nahm seinen Penis in den Mund, schliesslich vergewaltigte er den Jungen Dutzende Male. Erst in der Pubertät liess Hans vom Jungen ab.

«Ich habe nichts bemerkt», sagt Sandra. Dass ihr Sohn nachts plötzlich wieder ins Bett pinkelte, immer wieder Bauchschmerzen bekam und Darmprobleme hatte, schob sie auf die psychische Belastung durch ihre Scheidung. Auch der Kinderarzt begründete das Bettnässen mit der Trennung der Eltern. «Wäre mein Sohn damals untersucht worden, hätte man vielleicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte.»

«Ich hätte meinem Sohn viel Leid ersparen können»

Zwei Jahre nach den ersten Übergriffen versuchte Marcel, sich seiner Mutter anzuvertrauen. «Er sagte etwas über Hans’ Verhalten, das deutlich in eine sexuelle Richtung ging», so Sandra. «Und ich habe es überhört, verdrängt! Ich habe in diesem Moment komplett versagt!» Anstatt mit ihrem Sohn darüber zu sprechen, besuchte sie mit einer Freundin die Mai-Andacht in der Kirche. «Und Marcel ging wieder zu Hans.»

Am nächsten Tag suchte Sandra dennoch das Gespräch mit Hans. Dieser stritt alles ab: «Er sagte, dass er Kinder lieben würde und ihnen nie etwas antun könnte.» Er habe die Vorwürfe als wilde Kinderfantasien abgetan. «Und ich habe ihm geglaubt. Ich hätte meinem Sohn viele Jahre Leid ersparen können, doch ich habe meinem Sohn nicht richtig zugehört. An diesem Abend habe ich mich mitschuldig gemacht an den sexuellen Misshandlungen an meinem Sohn.»

«Ich befürchtete, als Mutter versagt zu haben»

Sandra habe immer vermutet, dass Hans homosexuell sei – darüber gesprochen wurde aber nicht. «Niemals hätte ich jedoch gedacht, dass Hans auf Kinder steht.» Mit den Jahren driftete Hans ab, fühlte sich verfolgt, dachte, jemand wolle ihn vergiften. Sie stand ihm zur Seite. Als Sandra ihm riet, sich professionelle Hilfe zu suchen, verschwand Hans für einige Jahre ins Ausland. Der Kontakt brach komplett ab.

Zehn Jahre vergingen. Jahre, in denen Hans in anderen Ländern weitere Kinder sexuell misshandelte. Schliesslich wurde er in flagranti erwischt und angeklagt. Dabei kamen auch die Übergriffe an Marcel ans Tageslicht, und Sandra erhielt Einblick in die Polizeiakten. Sie versank in Selbstvorwürfen. «Ich war sehr traurig über die verlorene Kindheit meines Sohnes», sagt Sandra. Heftige Schuldgefühle nagten an ihr. «Ich befürchtete, als Mutter versagt zu haben, und ich hatte immer wieder Angst, dass mein Sohn sich etwas antun könnte.»

«Ich hätte Hans erschiessen können»

Das seitenlange Polizeiprotokoll konnte die Mutter nur unter Tränen durchgehen. Nach jedem zweiten Satz brach sie ab. «Ich hatte das Gefühl, dass ich es lesen musste. Bloss nicht noch länger wegschauen. Die Bilder im Kopf sind bis heute unerträglich.» Sandra begleitete Marcel zum Prozess. Während der Anhörung wartete sie vor dem Gerichtssaal. Sie hatte Mordfantasien. «Ich hätte der Polizistin am liebsten die Waffe entrissen und Hans erschossen.»

Hans wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Viel zu wenig, findet Sandra. «Die schlimmsten Tage meines Lebens waren, als ich erfahren habe, was Hans meinem Sohn angetan hat – und als dieses unfassbar milde Urteil verkündet wurde.»

Mit Hans hat Sandra nie wieder gesprochen. Als sie ihn zufällig auf der Strasse sah, wurde ihr übel. «Ich würde meine Kinder heute nicht mehr alleine zu einem Erwachsenen lassen. Jedes kleinste Detail muss ernst genommen werden. Jede Veränderung eines Kindes kann ein Anzeichen für Misshandlung sein.»

Jahrelang ging es Sandra schlecht. Dass ihr Sohn trotz der schlimmen sexuellen Gewalt heute mitten im Leben steht, tröstet sie ein bisschen. Sie ist dankbar, dass sie noch immer ein gutes Verhältnis zu Marcel hat. «Er gibt mir keinerlei Schuld an den sexuellen Misshandlungen. Doch egal, was er sagt: Ich werde mich immer mitverantwortlich fühlen.»

* zur Anonymisierung wurden einige Angaben verändert.

Regula Schwager ist Psychotherapeutin und Co-Leiterin der Beratungsstelle Castagna.

Regula Schwager ist Psychotherapeutin und Co-Leiterin der Beratungsstelle Castagna.

Castagna

«Es braucht einen sorgfältigen Umgang mit den Grenzen der Kinder»

Regula Schwager, woran können Eltern und Familienangehörige sexuelle Gewalt erkennen?

Betroffene Kinder zeigen in der Regel keine eindeutigen Symptome. Die meisten aber zeigen Zeichen von innerer Belastung und Not, welche aber verschiedene Ursachen haben können. Ein Kind, das wirkt, als ob es in Not sei, braucht unbedingt Unterstützung durch seine Bezugspersonen und eventuell auch professionelle Hilfe.

Wie können Familien der sexuellen Misshandlung an Kindern vorbeugen?

Das ist eine schwierige Frage, weil die Kinder in der Regel in ihrem nächsten Umfeld und von Personen, denen sie vorbehaltlos vertrauen, ausgebeutet werden. Deshalb kann kaum ein Kind dem Ansinnen dieser Person etwas entgegensetzen, Nein sagen oder sich gar wehren. Die Präventionsversuche, welche alleine auf das Nein-sagen-Können des Kindes abzielen, sind somit unsinnig. Wichtig ist, den Kindern immer wieder zu sagen, an welchen Stellen sie gar niemand anfassen darf. Sehr wichtig ist zudem, dass die Grenzen der Kinder respektiert werden und dass sie innerhalb der Familie einen sorgfältigen Umgang mit Grenzen vorgelebt bekommen.

Was empfehlen Sie Betroffenen und den Eltern?

Ich empfehle allen Betroffenen und deren Eltern, sich Hilfe bei einer spezialisierten Fachstelle wie zum Beispiel Castagna zu holen. Denn jeder Fall ist anders, und das bedingt ein sorgfältiges und der Situation der Betroffenen angepasstes Vorgehen. Für die Betroffenen ist es wichtig, zu wissen, dass wir als Beratungsstelle eine Schweigepflicht haben, dass wir nichts ohne Einwilligung der Betroffenen unternehmen werden und dass wir keine Details des Geschehenen wissen müssen. Genau davor haben viele grosse Angst, weil beim Erzählen die traumatischen Erinnerungen wieder hochkommen können. In der Beratungsstelle unterstützen und begleiten wir die Betroffenen bei allem, was sie heute einschränkt oder belastet.

Wird das Thema sexuelle Gewalt an Kindern in Ihren Augen zu sehr tabuisiert?

Die Tatsache, dass Menschen kleinen Kindern so schreckliche Dinge antun, ist für viele unvorstellbar. Dazu kommt, dass die tätlichen Personen häufig liebe und wertvolle Freundinnen, Partner oder Kollegen der betroffenen Familien sind. So versuchen viele Angehörige, diese schlimme Tatsache zu verdrängen, man sieht nicht hin oder behauptet sogar, dass das betroffene Kind lügt oder die Taten falsch erinnert. Die Tabuisierung der schrecklichen Taten dient dem Schutz vor der unerträglichen Tatsache.

Bist du oder jemand, den du kennst, pädophil oder von Pädokriminalität betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Castagna, Opferhilfe für sexuell ausgebeutete Kinder und Bezugspersonen

Kokon, Beratungsstelle und Hotline für Betroffene von körperlicher, seelischer oder sexueller Gewalt

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Bist du selbst pädophil und möchtest nicht straffällig werden? Hilfe erhältst du beim Institut Forio und bei den Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK).

Kummer Nummer, 0800 66 99 11

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