Interview: Vitali Klitschko über Selenski, Sprichwörter, Korruption und Neid

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InterviewVitali Klitschko über Selenski, Sprichwörter, Korruption und Neid

20 Minuten trifft Vitali Klitschko. Der Bürgermeister von Kiew zeigt sich im Gespräch erstaunlich offen und kritisch.

Vitaly Klitschko stellt sich im Gespräch mit 20 Minuten Fragen zu Korruption oder Fehlern im Krieg. 
Der Bürgermeister von Kiew gibt sich offen und kritisch, aber immer wieder blitzt sein Humor durch. 
Es ist  bereits das vierte Mal, dass Klitschko 20 Minuten in Kiew empfängt. 
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Vitaly Klitschko stellt sich im Gespräch mit 20 Minuten Fragen zu Korruption oder Fehlern im Krieg. 

20 Minuten

Darum gehts

  • In Kiew trifft 20 Minuten Vitali Klitschko, den Bürgermeister der ukranischen Hauptstadt.

  • Es ist nicht das erste Interview, das erste fand kurz vor Kriegsbeginn im Februar 2022 statt.

  • Auch jetzt gibt sich der 52-jährige Box-Champion Emeritus offen und hat auch in der schweren Lage weder den Humor noch seine Liebe für Sprichwörter verloren. 

Herr Klitschko, wie ist die Lage in Kiew?

Kiew war und bleibt ein Ziel von Russland. Seit Beginn des Krieges haben wir fast 900 Mal Raketenalarm gehabt. Das heisst, die Anwohner müssen sich jedes Mal in Sicherheit bringen und in einen Bunker gehen. 

Nur macht das fast niemand mehr.

Nicht in der letzten Zeit. Weil die Abwehrsysteme sehr gut funktionieren und die russischen Attacken weitgehend erfolglos blieben: Die meisten Kamikaze-Drohnen und Raketen wurden abgeschossen dank der deutschen Iris-Abwehrsysteme. Doch unsere Empfehlung bleibt: Bei Alarm sollte man in einen Bunker gehen. Das andere grosse Thema ist der Winter. 

«Das ärgert mich heute noch.»

Vitali Klitschko

Wie ist Kiew auf diesen Winter vorbereitet?

Der letzte war der schwierigste Winter aller Zeiten: Russlands Angriffe haben über 60 Prozent der städtischen Elektrizitätswerke, Kraftwerke und Transformatorfelder beschädigt. Zum ersten Mal in der Geschichte Kiews fiel der öffentliche Verkehr aus, das ärgert mich heute noch. Der Sinn hinter diesen Angriffen ist schwierig zu verstehen. Die Russen erzählen, dass sie militärische Anlagen zum Ziel hätten, doch sie gehen gegen die zivilen Strukturen und wollen, dass Millionen Menschen bei Minusgraden frieren. Es ist schlicht Terror und gegen jedes Kriegsrecht. Und auf diesen Terror müssen wir uns einstellen. Jetzt kommt der Winter, bald auch die Kälte …

Sie sind gut, es ist schon eiskalt!

Finden Sie? Es ist um die null Grad, aber hier heisst kalt, Minus 20 Grad und mehr. Der Januar kommt erst noch – und der Februar, Lutji auf Ukrainisch, was umgangssprachlich auch «der böseste Monat» heisst. Auf diese Monate bereiten wir uns vor. Dank der humanitären Hilfe unserer ausländischen Partner haben wir jetzt Transformatoren und Heizsysteme für Spitäler, die vom Stromnetz unabhängig funktionieren. Auch halten wir die Bürger an, sich Wasservorräte, Essen und warme Kleidung zu beschaffen. 

«Die heutige Welt ist zunehmend schwarz und weiss.»

Vitali Klitschko

Engagiert sich die Schweiz Ihrer Meinung nach genügend? 

Militärisch versucht die Schweiz bekanntlich, neutral zu sein. In der humanitären Hilfe engagiert sie sich, indem sie uns Ambulanzen und medizinische Ausrüstung zur Verfügung stellte, letzten Winter gab sie uns Generatoren. Ausserdem hat die Schweiz viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Für all das möchte ich mich sehr bedanken. 

Ich spüre, dass da noch ein Aber folgt.

In diesem Krieg kann man nicht neutral sein. Gegen Terror und Völkermord – und das passiert in der Ukraine gerade – muss man Stellung beziehen. Entweder verteidigt man Menschenrechte oder eine Diktatur. Die heutige Welt ist zunehmend schwarz und weiss. Wir verteidigen unser Land und wollen dafür Verteidigungswaffen. Daran ist nichts Falsches. 

«Letztes Jahr war Kiew fast leer, jetzt ist es brechend voll.»

Vitali Klitschko

Was ist der grösste Unterschied zum letzten Winter?

Letztes Jahr war Kiew fast leer, jetzt ist es brechend voll. Viele kehrten zurück und wir haben fast eine halbe Million Flüchtlinge aus dem ganzen Land hier. 

Sind jetzt alle Bunker zugänglich? Das war ja nicht immer so. 

Das liegt in der vollen Verantwortung des Präsidenten. Aber ich möchte das nicht abschieben, auch ich trage als Bürgermeister natürlich Verantwortung für Kiew. Aber die Stadt zahlt dafür, dass die Bunker zugänglich, repariert und ausgestattet sind. Leider gibt es immer auch politische Spiele, was jetzt im Krieg ein riesiger Fehler ist, denn es geht ja um die Interessen aller. Kommt dazu, dass uns viele Fachleute fehlen, weil sie jetzt kämpfen. Allein aus Kiew sind über 100’000 Bürger beim Militär. 

«Jetzt über meine politischen Ambitionen zu sprechen, wäre nicht klug.»

Vitali Klitschko

Apropos Präsident  – haben Sie eigentlich Ambitionen auf den Posten?

Es wäre dumm, heute darüber nachzudenken. Heute geht es nur darum, ob die Ukraine überhaupt weiter existiert. Putin akzeptiert die Ukraine nicht als unabhängiges Land, das ist kein Geheimnis. Er sagt, die Ukraine gehöre zum russischen Imperium. Wir kämpfen um unsere Freiheit und Unabhängigkeit. Gleichzeitig gibt es bei unseren Politikern bereits Grabenkämpfe – in einem Land, das in seiner Existenz wackelt. Das ist schlicht dumm. Jetzt also über meine politischen Ambitionen zu sprechen, wäre nicht klug. 

Überrascht es Sie, dass Präsident Selenskis Popularität im Gegensatz zur Armee sinkt?

Nein.

Wieso nicht? 

Leute sehen, wer effektiv ist und wer nicht. Und es gab und gibt viele Erwartungen. Selenski zahlt für Fehler, die er gemacht hat. 

«Es gab zu viele Informationen, die sich mit der Realität nicht deckten.»

Vitali Klitschko

Welche Fehler hat er gemacht? 

Die Leute fragen sich, wieso wir auf diesen Krieg nicht besser vorbereitet waren. Wieso Selenski bis zum Schluss verneinte, dass es dazukommen werde. Oder wieso es möglich war, dass die Russen so schnell vor Kiew stehen konnten. Es gab zu viele Informationen, die sich mit der Realität nicht deckten. Aber dennoch: Der Präsident hat heute eine wichtige Funktion und wir müssen ihn bis zum Kriegsende unterstützen. Aber am Ende dieses Krieges wird jeder Politiker für seine Erfolge oder Misserfolge zahlen. 

Ich bin seit über acht Monaten in Kiew …

Am Stück? 

Ja. 

Ach, ich dachte, dass sei Paul Ronzheimer von der «Bild». Sie haben seinen Rekord gebrochen. 

Jedenfalls: Ich kriege die Unzufriedenheit der Leute mit. Es gab Demonstrationen dagegen, dass Strassen und Gebäude repariert werden, statt dass das Geld zur Armee geht. Was sagen Sie dazu?

Auch Strassen gehören zur kritischen Infrastruktur. Die Ambulanz und die Feuerwehr müssen schnell durchkommen – oder auch das Militär. Die Strassen sind die Arterien unserer Stadt und müssen einwandfrei funktionieren. Ausserdem: Wir können nicht immer Hilfe aus dem Westen erhalten, die Wirtschaft muss in unserer Stadt auch so funktionieren. Die Leute, die fordern, dass keine einzige Grivna in die Infrastruktur fliessen soll, liegen falsch. Wir müssen unsere Wirtschaft stärken, um an der Front und als Land zu bestehen. 

«Ich bin neidisch, wenn ich durch Polen, die Slowakei oder Tschechien fahre.»

Vitali Klitschko

Reden wir von der grassierenden Korruption, die auch viele Ukrainer anprangern. 

Wir brauchen europäische Gesetze und die europäische Lebensqualität, um dagegen anzukämpfen. Wenn wir vom Wiederaufbau der Ukraine sprechen, geht es nicht nur um kaputte Häuser und Brücken, sondern auch um Reformen der Justiz, der Verwaltungen, der Politik. Daran arbeiten wir jetzt schon und zum Kriegsende müssen wir diese ganz schnell implementieren, denn diese Gelegenheit kann schnell vorbeigehen. Doch auch dazu brauchen wir die Hilfe Europas. Wir müssen von Erfolgsgeschichten und von Fehlern anderer lernen. Ich muss ganz ehrlich sein: Ich bin neidisch, wenn ich durch Polen, die Slowakei oder Tschechien fahre. Diese ehemaligen Länder des Sowjetblocks haben riesige Fortschritte gemacht.

Was tun Sie gegen Korruption in Kiew? 

Als Hauptstadt sind wir ein Vorbild für das ganze Land. Wir arbeiten mit einer deutschen IT-Firma zusammen und das Budget wird offengelegt. Die Bürger können dort sehen, von wo das Geld kommt und wohin es fliesst. Es ist alles transparent, und das ist das Wichtigste im Kampf gegen die Korruption. Das Parlament und viele Verwaltungen im Land sind unserem Beispiel gefolgt. 

«Ich liebe Sprichwörter.»

Vitali Klitschko

Es gab einen Giftanschlag auf die Frau des ukrainischen Geheimdienstchefs Budanow. Sie arbeitete oft auch bei Ihnen im Rathaus. Wie steht es um Ihre Sicherheit?

Ich folge dem Protokoll, in dieser aussergewöhnlichen Situation sowieso. 

Wurden die Sicherheitsvorkehrungen nach dem Anschlag verschärft?

Ich bin Fatalist und in diesem Zusammenhang gibt es ein gutes Sprichwort: Der, der geboren wurde, um zu verbrennen, ertrinkt nie. Ich liebe Sprichwörter. 

Was ist ihr Lieblingssprichwort?

Ich habe Tausende davon. Bei der Arbeit etwa: «Der, der will, findet immer einen Weg und der, der nicht will, findet immer eine Ausrede.»

Findet der Westen Ausreden in Sachen Waffenlieferungen?

Jein. Bei den von Deutschland nicht gelieferten Taurus-Raketen sind es Ausreden. Bei den Abwehrsystemen aber haben wir vieles erhalten und sind dafür enorm dankbar. 

Und in Sachen Munition?

Die Lieferungen hinken stark hinter den Versprechungen. Wir sind im grössten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Front ist über Tausend Kilometer lang. Der Munitionsverschleiss ist enorm und man kommt mit der Produktion nicht nach. Dafür habe ich Verständnis. Nicht aber, was die Langstreckenraketen angeht – da sind unsere Partner viel zu vorsichtig und weichen aus.  

«Wir können euphorisch unser Volk und die Partner anlügen. Aber nicht ewig.»

Vitali Klitschko

General Soluschni hat den Krieg in einem Interview als Patt beschrieben und wurde dafür stark kritisiert. Machte er einen Fehler? 

Nein. Er hat die Wahrheit gesagt. Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören. Aber letztlich ist er verantwortlich. Er hat erklärt und begründet, wie die Lage heute ist. Selbstverständlich können wir euphorisch unser Volk und unsere Partner anlügen. Aber das kann man nicht ewig machen. Einige unserer Politiker haben Soluschni für die klaren Worte kritisiert – zu Unrecht. Ich stehe hinter ihm. 

Kommen Sie nächstes Jahr nach Davos?

Ich würde gerne. Denn hier konnte ich wertvolle Kontakte knüpfen und Investitionen für Kiew finden. Meine Stadt hat die Ergebnisse dieser Dienstreise gespürt. Das möchte ich wiederholen. Aber alles hängt davon ab, wie die Situation ist. Die Leute haben Mühe zu verstehen, wenn die Stadt wegen Kamikatze-Drohnen und Raketen in Flammen steht und der Bürgermeister ist in der Schweiz. Pläne dafür gibt es jedenfalls. 

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