«Islamischer Staat»Radikalisierte Jugendliche: «Schweiz ist fast schon Vorreiterin»
Die Terrorgefahr in Europa, auch in der Schweiz, hat sich intensiviert. Der IS erreicht jetzt viel mehr Minderjährige – gerade im DACH-Raum, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Darum gehts
Die IS-Terrorgefahr in der Schweiz hat zugenommen.
Jugendliche und Minderjährige werden zunehmend online durch zugeschnittene Propaganda radikalisiert.
Terrornetzwerke wie ISPK haben ihre Aktivitäten in Europa verstärkt und führen komplexe Anschläge durch, während gleichzeitig die Zahl der radikalisierten Einzeltäter steigt.
Der Anschlag von Zürich und die Verhaftungen in der Ostschweiz zeigen, dass die Schweiz eine zunehmend sichtbare Rolle in der jihadistischen Bedrohungslandschaft einnimmt.
Die Terrorgefahr in Europa hat stark zugenommen – auch in der Schweiz und quasi an zwei Fronten. «Gerade der IS-Ableger ISPK hat seit zwei, drei Jahren Netzwerke überall in Westeuropa», sagt Terrorexperte Peter Neumann. «Er ist in der Lage, komplexere Anschläge wie in der Moskauer Konzerthalle durchzuführen.»
Zusätzlich beobachten Terrorexperten seit dem Gaza-Krieg verstärkte Aktivitäten von Einzeltätern oder kleinen Gruppen. «Genau das haben wir jetzt auch in der Schweiz gesehen: Teenager, die sich online radikalisieren, auf eigene Faust handeln und nicht Teil von grossen Netzwerken sind», so Neumann, der generell von einer «unglaublich brodelnden Situation im islamistischen Lager» spricht.
Viel mehr Junge auch in der Schweiz
Dem stimmt Terrorforscher Nicolas Stockhammer zu: Der Hamas-Angriff auf Israel und die Konsolidierung des ISPK hätten in Europa massiv zur Verbreitung von IS-Propaganda und einem starken Anstieg unter der Anhängerschaft beigetragen. «Der IS erreicht jetzt viel mehr Junge – gerade im DACH-Raum, also in Deutschland, Österreich, Schweiz.»
Während der territorialen Phase des IS (2014-2017) habe es die heutigen sozialen Netzwerke noch nicht gegeben, sagt die Freiburger Extremismusforscherin Géraldine Casutt. «Mittlerweile ist der Islamische Staat auf Gaming-Plattformen, Tiktok, Instagram, Facebook und X präsent. Dort stellt er Jugendlichen Sinnwelten zur Verfügung, in denen sich Ideologie und Gewalt mischen.»
«Wie mit Mäusefalle»: Radikalisierte 13-Jährige
Die IS-Propaganda sei eigens auf die Teenager zugeschnitten und auf Deutsch aufbereitet, mit vielen Einschüben von arabischen Wörtern, sagt Nicolas Stockhammer. Das Gemisch spreche Jugendliche an und trage dazu bei, dass sie immer jünger würden. «Derzeit werden auf Tiktok bereits 13-Jährige radikalisiert. Man kann damit sehr viele anlocken, wie mit einer Mausefalle», so Stockhammer.
«Und dann lockt man solche Interessenten hinein in Telegram-Gruppen, wo dann quasi noch verschärft und wirklich extremistisches Propagandamaterial geteilt wird.»
Der radikale Moschee-Prediger ist heute Influencer
Soziale Medien sind nicht nur die Trägerplattform für jihadistische Propaganda. Die Extremisten stellen dort niederschwellige Einstiegsformate bereit, die jeweils unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit liegen.
Erschwerend kommt hinzu: Die Jihadis aus der Zeit des «IS-Kalifats» sammelten sich noch um eine Moschee. Doch heute sei «der radikale Prediger von vor zehn Jahren ein Influencer im Internet», so Terrorexperte Neumann.
Keine landesweite Schweizer IS-Zelle
Die Begegnungen der oft minderjährigen IS-Fans beschränken sich nicht auf den virtuellen Raum. Die letzte Woche verhafteten IS-Teenies (15, 16, 18) aus Schaffhausen und Thurgau unterhielten Verbindungen nach Deutschland.
Dabei könnte man in der Schweiz wohl vom «Jihad-Röstigraben» sprechen: Die Deutschschweizer orientieren sich nach Österreich und Deutschland, die Westschweizer nach Belgien und Frankreich. «Diese Eigenheit verhinderte bislang auch, dass eine landesweit aktive IS-Zelle entstand», sagt Forscherin Casutt.
Gefahr für die Schweiz – mit einer Premiere
Von den radikalisierten Teenie-Jihadis in ihren jeweiligen Landesteilen geht eine reelle Gefahr aus. Darauf verwies vor allem der Anschlag in Zürich von Anfang März. Dieser hievte die Schweiz ins Blickfeld des ISPK, der den 15-jährigen Angreifer als «Helden» feierte. «Sie lobten ihn im gleichen Atemzug wie die Angreifer in Moskau», so Casutt.
«Es ist das erste Mal, dass ein Anschlag in der Schweiz von einer offiziellen Organisation des IS begrüsst und von einem Minderjährigen verübt wurde.» Das sage etwas über die Bedrohungslage in der Schweiz aus, so die Terrorexpertin.
«Schweiz: fast schon ein bisschen Vorreiterin»
Mit dem Anschlag in Zürich und den jüngsten Verhaftungen in der Ostschweiz sei das Land im DACH-Raum «fast schon ein bisschen Vorreiterin», sagt Peter Neumann. «Denn wir sehen die Muster in der Schweiz jetzt deutlicher als in Deutschland und Österreich, wo wir solche Anschläge noch nicht hatten.»
Die Sicherheitsbehörden überall müssten jetzt schnell den Gang umlegen. «Sie müssen verstehen, dass hier momentan etwas am Brodeln ist. Es könnte etwas passieren – und in Zürich ist schon was passiert.»
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