Schweiz«Lehrer sind nicht dafür da, die Windeln ihrer Schüler zu wechseln»
Vereinzelte Eltern schicken ihre Kinder mit Windeln in die Schule. Nicht immer sind gesundheitliche Probleme der Grund. Experten zeigen sich besorgt.
Darum gehts
Bei Entwicklungspädagogin Rita Messmer sitzen immer häufiger Kinder in der Praxis, die nicht aus den Windeln kommen. Wie sie gegenüber der «SonntagsZeitung» erzählt, hatte sie kürzlich einen Elfjährigen betreut, der Windeln trug, weil er den Gang aufs WC nie gelernt habe. Wegen der «Windelthematik» organisiert der Aargauer Schulleiter Philipp Grolimund einen Infoanlass, bei dem die Eltern darauf hingewiesen werden, dass die Kinder trocken sein müssen, wenn sie nach den Sommerferien in die Schule kommen. Und die Schule Spreitenbach AG informiert bereits vor dem Kindergarteneintritt die Eltern mit einem Flyer, dass Lehrpersonen keine Windeln wechseln und die Eltern selber dafür verantwortlich sind.
Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), weiss von dem Problem primär bei jüngeren Schülerinnen und Schülern. «Kinder werden heutzutage bereits mit vier Jahren eingeschult, da kann es tatsächlich vorkommen, dass einige noch Windeln tragen», sagt Rösler gegenüber 20 Minuten.
Je älter die Kindern werden, desto problematischer sei es jedoch sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Kinder selbst: «Die Eltern sind in der Pflicht, sicherzustellen, dass ihre Kinder im Schulalter keine Windeln mehr tragen. Wenn Elfjährige mit Windeln in die Schule kommen, ist das eine bedenkliche Entwicklung. Lehrpersonen sind nicht dafür da, die Windeln ihrer Schülerinnen und Schüler zu wechseln. Das geht zu weit.»
Wichtig sei zu unterscheiden, ob es eine entwicklungspsychologische Störung ist oder ob es die Betroffenen nie gelernt haben: «Lehrpersonen müssen in jedem Fall sensibel mit dem Thema umgehen und diskret sein», so Rösler. Das Kind dürfe auf keinen Fall blossgestellt werden: «Auch wenn keine gesundheitlichen Probleme vorliegen, ist ein Gespräch mit den Eltern zwingend notwendig, um das Problem anzugehen und sie in die Verantwortung zu nehmen.»
Gründe können schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehungen oder Traumatisierungen sein
Auch Psychotherapeut Felix Hof findet es sehr wichtig, dass die Thematik aufgegriffen wird und die Eltern sensibilisiert werden. Es gebe verschiedene Gründe, warum Kinder im Primarschulalter noch Windeln tragen müssen: «Wenn es nicht an einer körperlichen Beeinträchtigung liegt, kann ein solches Verhalten auf Vernachlässigung oder eine extrem belastete Familiensituation hinweisen.»
Eine schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehung, Traumatisierungen und schmerzlichste Verlustereignisse können auch Ursachen sein. Hof selbst habe in seiner Praxis ein Kind betreut, das im Alter von sieben Jahren noch Windeln brauchte. Der Grund: «Ein familiärer Konflikt, der für das Kind unerträglich war, dass es sich einkotete und einnässte.»
Das Tragen von Windeln sei für ein Kind in der Primarschule der ultimative Showdown, weil es zig Situationen gibt, welche das Problem outen, unter anderem im Turn- und Schwimmunterricht, beim Windelwechseln oder der Windelentsorgung. «Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden diese Kinder gehänselt oder gemobbt. Die Überforderung der Lehrkräfte macht dann die Unterstützung des Kindes und seiner Eltern noch schwieriger», so Hof.
Ist es in Ordnung, wenn Kinder in der Schule Windeln tragen?
Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
VASK, regionale Vereine für Angehörige
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Angst- und Panikhilfe Schweiz, Tel. 0848 801 109