Schweiz: ADHS-Abklärung gefragt wie nie

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Neuer HöchststandBis zu einem Jahr warten für ADHS-Abklärung: Das sind die Gründe

Noch nie wollten sich so viele Schweizerinnen und Schweizer auf eine Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung abklären lassen. Das sorgt für lange Wartelisten.

Kliniken und Beratungsstellen für ADHS sehen sich mit einer stark steigenden Zahl von Anfragen konfrontiert. (Symbolbild)
Bei der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich beträgt die Wartezeit momentan neun Monate, während andere Kliniken derzeit gar keine neuen Personen für Abklärungen annehmen.
Für den starken Anstieg von Personen, die sich auf ADHS abklären wollen, sehen Fachleute mehrere Gründe. (Symbolbild)
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Kliniken und Beratungsstellen für ADHS sehen sich mit einer stark steigenden Zahl von Anfragen konfrontiert. (Symbolbild)

IMAGO/Pond5 Images

Darum gehts

  • Psychiatrische Kliniken werden zunehmend von Anfragen betreffend ADHS überrannt.

  • Bis zu einem Jahr müssen Betroffene für eine Abklärung warten.

  • Während die Zahl der Abklärungen in die Höhe schnellt, haben die Diagnosen nicht stark zugelegt.

Personen, die sich hierzulande auf eine mögliche ADHS-Störung untersuchen lassen wollen, brauchen Geduld: Weil die Zahl der Anfragen für eine Abklärung einer möglichen Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung in neuester Zeit enorm angestiegen ist, erstrecken sich die Wartezeiten bei vielen Kliniken über Monate.

Beim der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik PUK Zürich etwa ist die Nachfrage so gross, dass seit Januar eine Überbrückungslösung in Form von Online-Gesprächsgruppen für Jugendliche angeboten wird. Denn wer nicht als Notfall gilt, wartet derzeit bis zu neun Monate auf einen Termin.

Anmeldezahlen mehr als verdoppelt

Auch bei den psychiatrischen Diensten Aargau müssen erwachsene Personen, die ihre Symptome auf ADHS abklären lassen wollen, neun Monate warten, Tendenz steigend. Im Bereich der Kinder und Jugendlichen haben sich die Anmeldezahlen in den letzten sieben Jahren gar mehr als verdoppelt, wie der leitende Arzt Rainer Kment gegenüber dem «SonntagsBlick» sagt. Zur Ermittlung der steigenden Zahlen hat die Zeitung den Krankenversicherer Helsana mit einer Auswertung beauftragt.

Anfragen trotz Aufnahmestopp

Einzelne Praxen wie Brainarc in Zürich haben sogar einen Aufnahmestopp verhängt, nachdem die Wartefristen zuletzt zehn bis zwölf Monate betrugen. Doch noch immer gehen täglich etwa zehn Anfragen ein. Die ADHS-Organisation Elpos Schweiz bezeichnet Wartezeiten von einem halben oder ganzen Jahr für einen Termin zur Abklärung mittlerweile als «normal».

Für den starken Anstieg von Anfragen für eine ADHS-Abklärung sehen Fachleute mehrere Gründe. «ADHS ist längst in unserer Gesellschaft angekommen», schreibt Susanne Walitza, die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des PUK. Nebst dem gestiegenen Bewusstsein würden sich auch Schulen und Eltern früher um eine ADHS-Abklärung bemühen – und auch der Altersschnitt sinkt: «Wir haben mehr Vorschulkinder in der Abklärung als noch vor Jahren», so Walitza.

Während in den letzten Jahren laut Fachleuten hinsichtlich ADHS in der Gesellschaft eine Sensibilisierung stattgefunden habe, sei aber der Leistungsdruck gestiegen, zudem würden Social-Media-Plattformen schnell zu einer Reizüberflutung führen. «Kinder und Jugendliche mit ADHS fallen aus der Norm, da es ihnen kaum gelingt, den steigenden Anforderungen in Schule und Familie zu genügen», meint etwa Kment von den psychiatrischen Diensten Aargau.

Immer mehr Studenten wollen Abklärung

Seit der Pandemie würden sich zudem vermehrt Studenten auf ADHS abklären lassen. Der Chefarzt der Privatklinik Meiringen und Vorstandsmitglied bei der Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS, Stephan Kupferschmid, sieht dafür ähnliche Gründe: Auch nach Ende der Lockdowns würden viele Vorlesungen nur noch online geschaut, und auch im Studium habe eine Beschleunigung stattgefunden, durch die die Studierenden immer mehr Reize verarbeiten müssten.

Kennst du jemanden mit ADHS?

Während sich der Anstieg der Anfragen für eine ADHS-Abklärung auf psychotherapeutischer Seite in langen Wartelisten manifestiert, sprechen auch die Zahlen der verkauften Medikamente Bände: 2019 erhielten rund 60'000 Personen ADHS-Medikamente, laut Hochrechnungen des «SonntagsBlick» sind es 2023 bereits 92'000 Leute, die Ritalin oder ähnliche Medikamente erhalten. Ums Jahr 2005 hatten schweizweit etwa 20'000 Personen ein Rezept für ein ADHS-Medikament.

Doch während sich immer mehr Personen auf eine mögliche Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung abklären lassen wollen, ist die Zahl der Diagnosen laut Fachleuten seit Jahren konstant. Denn längst nicht bei allen, die bei sich ein ADHS vermuten, liege die neuronale Entwicklung auch vor, wie Susanne Walitza schreibt.

Diesen Mittelweg braucht es laut Experten

«Die Inanspruchnahme ist grösser geworden», sagt Stephan Kupferschmid, Chefarzt der Privatklinik Meiringen und Vorstandsmitglied bei der Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS. Nicht nur seien psychische Störungen nicht mehr so stigmatisiert wie früher, manche hätten gar eine gewisse Attraktivität erhalten. «Wichtig ist, die psychische Erkrankung nicht als Entschuldigung zu gebrauchen, aber auch nicht zu stigmatisieren», so Kupferschmid. Laut dem Experten brauche es in allen Fällen eine differenzierte und professionelle Abklärung.

Bist du selbst von den langen Wartezeiten betroffen oder kennst du jemand, der darunter leidet? Dann schreib uns über untenstehendes Formular (Desktop) oder öffne das Formular über diesen Link (Mobile).

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