Syrien: Schützt der Deal die Kurden vor der Türkei?

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Syrien nach AssadSchützt der Deal mit Damaskus die Kurden vor der Türkei?

In Syriens Küstenstädten geht die Angst vor weiterer Gewalt um, in den sozialen Medien tobt der Hasssturm gegen Kurden. Ein Interview mit Nahostexperte Guido Steinberg.

Im Norden von Syrien halten die Kämpfe an: Die Kurden beschuldigen die Türkei, mit Luftangriffen nahe der Stadt Kobane (im Bild) neun Menschen getötet zu haben. Ankara äusserte sich nicht.
In Westsyrien war es dagegen zu schlimmen Gewaltausbrüchen vor allem gegen Angehörige der religiösen Minderheit der Alawiten gekommen.
Fast 13'000 Syrerinnen und Syrer sind laut libanesischen Behörden wegen der Gewalt der letzten Wochen in den Libanon geflohen.
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Im Norden von Syrien halten die Kämpfe an: Die Kurden beschuldigen die Türkei, mit Luftangriffen nahe der Stadt Kobane (im Bild) neun Menschen getötet zu haben. Ankara äusserte sich nicht.

20 Minuten/ Ann Guenter

Darum gehts

  • Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) schlossen mit der neuen HTS-Regierung in Damaskus ein von einigen als historisch gefeiertes Abkommen.

  • «Dabei ging es vor allem um eine Botschaft an die Türkei», sagt Nahostexperte Guido Steinberg.

  • Tatsächlich wäre es aber «fahrlässig», hielten sich die Kurden an den Deal.

  • Europa sei zu rasch auf die HTS zugegangen, kritisiert Steinberg.

  • Er rechnet mit einer neuen Grossoffensive, sollten die US-Truppen abziehen.

Syriens Honeymoon-Phase ist nach Assads Sturz und der Machtübernahme der islamistischen Hayat Tharir al Scham (HTS) vorbei. Neben israelischen Angriffen im Süden, kam es in den Küstenstädten im Westen unlängst zu einer Welle der Gewalt gegen Alawiten. In den sozialen Medien tobt gleichzeitig ein Hasssturm gegen Kurden.

Mittlerweile haben die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ein Abkommen mit Damaskus geschlossen. Darüber, was dieses wert ist, was es mit dem Hass gegen Kurden und anderen Minderheiten auf sich hat und wieso er einen «erstaunlichen Mangel an Urteilsfähigkeit» unter Europas Politikern feststellt, sprechen wir mit Nahostexperten Guido Steinberg.

Sehen Sie unter den Alliierten der syrischen Kurden eine gewisse Nervosität, seit die HTS in Damaskus die Macht übernommen hat?

Eher nicht. Mehr eine Kaltschnäuzigkeit, die mich sehr irritiert. Die Europäer forderten von den Kurden sofort, ihre Waffen niederzulegen und das ausländische PKK-Personal wegzuschicken, da jetzt alles in einem souveränen, einigen Syrien geregelt werde.

Was ist daran kaltschnäuzig?

Die Kurden haben im Kampf gegen den IS grosse Opfer gebracht und viel zur inneren Sicherheit in Europa beigetragen. Dass dies für eine Trump-Administration keine Rolle spielt, kann niemanden wundern. Dass auch die Deutschen und Franzosen so schnell auf die HTS zugingen, um ihr ganz Syrien zu übergeben, spricht für einen erstaunlichen Mangel an Urteilsfähigkeit.

«Es gibt einen ausgeprägten sunnitischen-arabischen Chauvinismus, der Syrien als rein arabisches Land ansieht.»

Guido Steinberg

In Syriens sozialen Medien ist eine Hasswelle gegen Kurden zu beobachten. Hat das mit der HTS-Machtübernahme zu tun?

Nein, das gibt es schon länger und hat mehrere Ursachen: So gibt es einen ausgeprägten sunnitischen-arabischen Chauvinismus, der Syrien als rein arabisches Land ansieht. Da haben Kurden und andere religiöse und ethnische Minderheiten nur einen Platz, wenn sie sich der Mehrheit bedingungslos unterordnen. Doch auch in der syrischen Gesamtbevölkerung ist das Bild schon lange verbreitet, dass die Kurden im Osten des Landes primitiv und unterentwickelt seien und immer für Ärger sorgten. Noch schlimmer richtet sich der Hass im Land jedoch gegen die Alawiten.

«Es geht zu weit, den Kurden das zum Vorwurf zu machen.»

Guido Steinberg

Online wird geschimpft, die Kurden hätten mit Assads Regime gearbeitet – ein berechtigter Vorwurf?

Nein. Die Kurden mussten unter dem Assad-Regime pragmatisch sein. Sie wussten genau, dass sie keine wirklichen Verbündeten haben. Es geht zu weit, ihnen das zum Vorwurf zu machen – gerade angesichts der langen Liste von Feinden im Land, zu denen auch fast alle Aufständischen und grosse Teile der Opposition gehörten.

Nun wurde ein wichtiges Abkommen mit Damaskus erzielt. Haben Sie damit gerechnet?

Ja, nur nicht so bald. Die Verhandlungen zwischen Damaskus und der kurdisch angeführten SDF laufen schon länger. Sie basieren auf dem gemeinsamen Interesse, Ankara eine Botschaft zu senden. Das Abkommen zwischen Damaskus und der SDF ist also durchaus folgerichtig.

«Die Kurden können nicht wollen, dass das Abkommen mit Inhalt gefüllt wird.»

Guido Steinberg

Von welcher Botschaft an die Türkei sprechen Sie?  

Die neuen HTS-Machthaber wollen sich etwas aus der Umarmung ihrer Schutzmacht Türkei befreien und eine eigenständige Politik betreiben. Und die Kurden könnten durch den Deal vor einem grossen türkischen Angriff geschützt werden, denn die Türkei kann gegen den Willen der HTS in Damaskus nicht auf breiter Front gegen sie vorgehen. Also ein kluger Schachzug von beiden Seiten. Nur können die Kurden nicht wollen, dass das Abkommen mit Inhalt gefüllt wird.

Besser ein inhaltsloses Abkommen – wieso?

Sicher möchte die HTS die vollständige Kontrolle über die SDF-Milizen, etwa indem sie sie mit eigenen Kräften aus Westsyrien durchmischt. Nur kann ich mir nicht vorstellen, dass sie dieses Ziel mit diesem Deal durchsetzen kann. Denn die Kurden wollen ihre Milizkräfte, Waffen und Kommandostrukturen im Osten des Landes nicht aufgeben. Für sie ist die HTS im Prinzip ein feindseliger Akteur, vor dem sie sich nicht wehrlos machen können. Sonst gefährden sie ihre eigene und die Existenz der Kurden in Ostsyrien. Nach den Ereignissen an der Küste, wo vor kurzem über 1000 Alawiten von HTS-Verbündeten ermordet wurden, wäre es von den Volksverteidigungseinheiten YPG, die Teil der SDF-Milizen sind, schlicht fahrlässig, sich in eine HTS-Armee eingliedern zu lassen.

«HTS ist im Prinzip ein feindseliger Akteur, vor dem sie sich nicht wehrlos machen können.»

Guido Steinberg

Heisst konkret?

Zusammenarbeit ja, aber eben keine Unterordnung – trotz Abkommen. Die YPG wollen als Organisation und die Kurden als Gemeinschaft ja überleben. Die Idee, dass es nun zu einer echten sicherheitspolitischen oder militärischen Zusammenarbeit kommt, ist nur begrenzt realistisch.

Andere Experten feiern das Abkommen als historisch.

Dazu gibt es in meinen Augen keinen Anlass. Ich befürchte eher, dass die jüngste Gewalt an der Küste den Ton vorgegeben hat. Viele Syrer, vor allem Angehörige der Minderheiten, machen sich jetzt Gedanken, wie sie das Land schnellstmöglich verlassen können. Alawiten fliehen bereits in den Libanon. Ein vernünftiger Schritt angesichts der Lage.

«Spätestens dann wird sich zeigen, inwiefern der Deal mit Damaskus die Kurden schützen wird.»

Guido Steinberg

Es gab die Angst, dass die HTS und die Türkei gegen die Kurden losschlagen, sobald die US-Truppen aus Syrien abziehen. Ist die Sorge mit dem Damaskus-Deal vom Tisch?

Im Moment ja, auch weil die HTS ganz andere Probleme hat. Die Miliz ist nur 20'000 bis 23'000 Mann stark und vollkommen überdehnt. Doch es stimmt: In dem Moment, in dem sich die gut 2000 US-Soldaten aus Syrien zurückziehen, wird der Druck auf die Kurden steigen – durch die HTS oder die Türkei. Spätestens dann wird sich zeigen, inwiefern der Deal mit Damaskus die Kurden schützen wird.

Wem sollen die Kurden und andere ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien eher trauen: Trump oder Jolani?

Wohl keinem von beiden. Es gibt die Angst, die HTS könne sich in einer Kampagne gegen die Kurden mit der von der Türkei kontrollierten Syrischen Nationale Armee verbünden – das ist nicht die syrische Armee, sondern ein Verbund türkischer Hilfstruppen im Norden. Nach der jüngsten Gewaltwelle hat sich das Gefühl der Unsicherheit, das seit Dezember um sich greift, bei allen Minderheiten enorm verstärkt. Und bei Trump ist jederzeit damit zu rechnen, dass er die amerikanischen Truppen aus Syrien zurückzieht.

Zu Guido Steinberg

Screenshot

Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler bei der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die zu den führenden politischen Instituten Deutschlands zählt. Er ist Experte für die Nahost-Region, Islamismus und islamistischen Terrorismus. Steinberg hat bereits für das Bundeskanzleramt gearbeitet und ist immer wieder auch als Prozessgutachter tätig.

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