«Wie ein schlechter Traum»: Diese Zürcher verlieren ihre Wohnungen

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Massenkündigung«Wie ein schlechter Traum»: Diese Zürcher verlieren ihre Wohnungen

Ein Zürcher Wohnkomplex kündigt 105 Mietparteien. Familien sind geschockt, Kinder verunsichert und können sich in der Schule nicht mehr konzentrieren. Für viele beginnt nun eine verzweifelte Wohnungssuche.

Peter (50) wohnt seit über zehn Jahren in der Siedlung, seine beiden Kinder sind da aufgewachsen.
Andreas (59) ist vor drei Jahren in die Siedlung gezogen.
Rund 300 Personen verlieren ihr Zuhause.
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Peter (50) wohnt seit über zehn Jahren in der Siedlung, seine beiden Kinder sind da aufgewachsen.

20min/Chiara Panico

Darum gehts

  • 105 Mietparteien an der Neugasse 81 bis 85 in Zürich müssen bis Ende März ihre Wohnungen verlassen.

  • Rund 300 Personen sind von der Kündigung betroffen, darunter viele Familien mit Kindern.

  • Die Immobilienfirma plant umfassende Renovationen.

  • Die Mieter sind schockiert und fühlen sich von der Kündigung überrumpelt.

«Alles wirkt wie ein schlechter Traum momentan. Ich fühle mich, als müsste ich jeden Moment aufwachen», sagt ein Mieter unter Tränen. Vor zwei Tagen haben alle 105 Mietparteien an der Neugasse 81 bis 85 einen eingeschriebenen Brief bekommen. Kündigung, drei Monate Frist, bis Ende März müssen sie raus sein.

Der letzte Satz in der Kündigung ist wie ein Schlag ins Gesicht: «Wir wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute und hoffen, dass Sie schnell ein neues Zuhause finden.»

Der Familienvater sei vor allem von diesem zynischen letzten Satz getroffen. Seine Kinder gehen gleich um die Ecke ins Schulhaus Kornhaus. Das ganze Leben lang wohnen seine Kinder bereits in der Siedlung, jetzt müssen sie gehen. Wohnungsknappheit sei in Zürich nichts Neues, aber zu wissen, dass sicherlich noch knapp 300 andere Menschen auch auf der Suche sind, vereinfache die Situation nicht.

Vor Einzug zehn Jahre auf Warteliste

Eine Mieterin der Parterre-Wohnung erzählt: «Wir waren zehn Jahre auf einer Warteliste, bis wir vor drei Jahren endlich hier einziehen konnten. Nach drei Jahren haben wir uns hier eingelebt, Freunde und Bekannte in der Gegend gefunden.»

Sie könne momentan noch nicht nach einer neuen Wohnung suchen, der Schock sitzt noch zu tief. Er müsse zuerst verdaut werden.

Anita und ihre Tochter wollen ihr Umfeld nicht aufgeben

Anita (52) ist alleinerziehende Mutter und lebt mit ihrer elfjährigen Tochter Roxana in einer 3,5-Zimmer-Wohnung. Für sie ist ihr Zuhause mehr als nur ein Ort zum Wohnen: «Wir würden gerne im Quartier bleiben, wir haben hier unser gesamtes Umfeld», sagt Anita. Nun an einen völlig neuen Ort zu ziehen, sei gerade unvorstellbar. Vor allem ihre Tochter belaste die Ungewissheit: «Sie musste in den vergangenen Stunden viel weinen.» Roxana erzählt: «Ich habe Angst, meine beste Freundin zu verlieren – sie wohnt gleich im Block nebenan.» Eine vergleichbare Wohnung mit ähnlichem Mietzins im Quartier zu finden, halten die beiden für unwahrscheinlich.

Roxana (11) und ihre Mutter Anita (52) ringen noch immer mit der Nachricht der Kündigung: «Unser ganzes Umfeld ist hier – das möchten wir nicht verlieren.»

Roxana (11) und ihre Mutter Anita (52) ringen noch immer mit der Nachricht der Kündigung: «Unser ganzes Umfeld ist hier – das möchten wir nicht verlieren.»

20min/zoa

Anita ist in einem Teilzeitpensum angestellt: «Ich arbeite 60 Prozent, weil ich auch Mutter sein will. Mit dem aktuellen Mietzins geht das sehr gut – aber für das Geld bekomme ich so eine Wohnung nicht noch einmal.» Die 52-Jährige werde in den nächsten Wochen Zeit investieren, ein neues Zuhause zu finden – aber: «Jetzt werden wir den Mietentscheid erst einmal anfechten.»

Drei Generationen leben zusammen

Andere leben ihr ganzes Leben in den Sugus-Häusern. Diturie Zulali (63) ist vor 25 Jahren in die Siedlung gezogen. Sie habe ihre Kinder in der Siedlung gross gezogen, ihre Tochter und ihr Sohn wohnen ebenso in den Blöcken. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter Fatmire (35) wohnen mit den Enkelkindern, einem Mädchen (12) und einem Jungen (17), gleich einen Stock unter ihr und ihrem Mann. Ihre Tochter und ihr Mann leben mit drei Enkelkindern im Haus nebenan. «Hier sind alle Zuhause», sagt sie.

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«Alle sind am Weinen, wenn jemand über die Wohnung oder die momentane Situation spricht. Wir wissen nicht, wie es weiter geht», sagt Fatmire (36). Ihre Tochter könne sich in der Schule nicht mehr konzentrieren.

Widerstandslos gehen die Mieter nicht

Peter (50) wohnt seit über zehn Jahren in der Siedlung, seine beiden Kinder sind hier aufgewachsen.

Peter (50) wohnt seit über zehn Jahren in der Siedlung, seine beiden Kinder sind hier aufgewachsen.

20min/Chiara Panico

Peter (50) wohnt seit zehn Jahren in der Überbauung, auch seine zwei Kinder (9 und 11) gehen ins Schulhaus gleich um die Ecke. Sie haben das ganze soziale Umfeld hier und tun alles, um hier bleiben zu können. Er lebt seit 30 Jahren in Zürich, will sich nicht vertreiben lassen.

Der Schock sitzt noch tief in den Knochen und Peter sagt, es fühle sich alles völlig surreal an. «Ich bin noch voll im Widerstandsmodus. Meine Frau schaut sich bereits um für eine neue Wohnung. Aber ich werde nicht einfach nachgeben.»

Ein Jahr nach Renovierung folgte die Kündigung

Dies möchte auch Daniel Schröder nicht: «Es war ein riesiger Schock», sagt der 53-Jährige, der mit seiner Ehefrau seit 25 Jahren im Sugus-Block wohnt. «Die Wohnung bedeutet uns viel – wir haben sie eingerichtet und im vergangenen Jahr noch den Boden neu gemacht und die Wände gestrichen.»

Das Ehepaar wolle sich nun über den Mieterinnen- und Mieterverband organisieren, um gemeinsam mit anderen Betroffenen vorzugehen. Daniel ist überzeugt, dass die Kündigungen einzig der Gewinnmaximierung dienen. «Es sagt zudem viel über die Eigentümer aus, wenn man so kurz vor Weihnachten 105 Mietparteien kündigt.»

Vergangenes Jahr haben Daniel Schröder und seine Frau noch Zeit und Geld in kleine Renovierungen gesteckt – nun kam die Kündigung.

Vergangenes Jahr haben Daniel Schröder und seine Frau noch Zeit und Geld in kleine Renovierungen gesteckt – nun kam die Kündigung.

20min

«Was Bachmann aufgebaut hat, ist zunichte»

Eine Schweinerei und reine Geldmacherei seien diese Kündigungen, sagt Andreas (59). Er ist vor drei Jahren in die Siedlung gezogen. «Die Gier hat Überhand gewonnen und jetzt muss der kleine Bürger leiden.»

Andreas (59) ist vor drei Jahren in die Siedlung gezogen.

Andreas (59) ist vor drei Jahren in die Siedlung gezogen.

20min/Chiara Panico

Die Wohnungen an sich seien völlig in Ordnung, findet er. Vor rund einem Jahr wurden die Böden erneuert und teilweise wurde auch neu gestrichen. Die damalige Verwaltung sei auch immer bereit gewesen, Dinge zu ersetzten oder renovieren. In einzelnen Wohnungen sind die WC-Kästen und die Wasserhähne ersetzt worden.

Gebaut wurden die drei Häuser von Leopold Bachmann (1933–2021), dem seine soziale Verantwortung immer wichtig war. Er halte es für wichtig, für weniger Verdienende, vor allem Familien mit Kindern, erschwinglichen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sagte er in einem seiner wenigen Interviews zu Lebzeiten zur NZZ. Nach der Besitzübernahme seiner Tochter Regina Bachmann und der Massenkündigung findet Andreas: «Alles, was Leopold Bachmann aufgebaut habe und für alles, was er einstand, würde jetzt zunichtegemacht. Der Ärger und die Trauer sind gross.»

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