Gang-Gewalt in Schweden: Das ohrenbetäubende Schweigen der Verantwortlichen

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SchwedenDas ohrenbetäubende Schweigen der Verantwortlichen

Die Suche nach Verantwortlichen, die zur Gang-Gewalt in Schweden Stellung beziehen, gestaltet sich schwierig. Auch sonst fällt auf: Kaum jemand spricht gern über die Ursachen der Krise.

20 Minuten war vor Ort in Schweden und hat Gang-Aussteiger Ali* getroffen.

20min/Noah Knüsel und Christina Pirskanen

Darum gehts

  • Schweden hat ein immenses Problem mit kriminellen Gangs.

  • 20 Minuten wollte von Verantwortlichen wissen, weshalb die Situation so eskaliert ist.

  • Dieses Vorhaben gestaltete sich jedoch schwierig: Kaum jemand wollte zur Gang-Gewalt Stellung nehmen oder Fragen beantworten.

  • Die neue konservative Regierung stellte jedoch ihre geplanten Massnahmen vor, mit denen sie die Bandenkriminalität in den Griff kriegen will.

Die Gangkriminalität in Schweden nimmt jährlich neue Rekordausmasse an. 2022 starben so viele Menschen wie noch nie aufgrund von Schusswaffengewalt. Von wegen heiles Bullerbü, wie Kinderbuchautorin Astrid Lindgren es beschrieben hat: Im nordischen Land sind tödliche Schiessereien die neue Normalität geworden.

Doch was sagen die Verantwortlichen? Wie konnte die Situation so eskalieren und was tun sie, um den Morden, Kindersoldaten und Explosionen ein Ende zu setzen? Antworten zu erhalten, stellt sich als schwierig heraus: 20 Minuten hat Dutzende Vertreter der Regierung, aller grossen politischen Parteien, die Stadt Stockholm, Lokalpolitiker und Forschende diverser Universitäten angefragt – mit wenig Erfolg.

Entweder blieb eine Antwort ganz aus, oder die Journalisten wurde in einer Endlosschleife an immer dieselben Stellen zurückverwiesen. Nur einzelne Verantwortliche erklärten sich bereit, mit uns über das Thema zu sprechen.

Wer ist denn nun verantwortlich?

Im Oktober vergangenen Jahres wurde mit dem Moderaten Ulf Kristersson ein neuer Ministerpräsident und damit wieder eine konservative Regierung in Schweden gewählt. Den Sieg verdankte Kristersson einer starken Unterstützung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten – auch die Osterunruhen 2022 aufgrund der Koran-Verbrennungen gaben den Ton für den Wahlkampf an. Zuletzt waren die Moderaten von 2006 bis 2014 an der Macht, seither bildeten sozialdemokratische Regierungen bis vor einem halben Jahr die Regierung.

Die neue konservative Regierung setzt vor allem auf eine repressive Strategie mit gestärkter Polizei und härteren Strafen. Nach 100 Tagen im Amt stellte sie im Januar eine erste Reihe geplanter Änderungen vor:

  • Die Polizei soll in sogenannten «Durchsuchungszonen» Leibesvisitationen ohne vorgängigen Verdacht durchführen können.

  • Zeugen sollen bei Gerichtsverhandlungen neu anonym aussagen dürfen.

  • Mehr Kriminelle sollen ausgeschafft werden.

  • Eine Haftstrafe soll verdoppelt werden können, wenn eine Gang-Mitgliedschaft nachgewiesen werden kann.

  • Mehr Möglichkeiten zur Zwangsbetreuung von Kindern in kriminellen Milieus.

  • Strengere Mindeststrafen für gangtypische Delikte wie Drogendelikte, Erpressung oder Raub.

  • Mehr Unterstützung für Kriminelle, die aus der Kriminalität aussteigen wollen.

  • Staatliche Beiträge an Eltern sollen eingezogen werden, wenn diese nicht mit dem Sozialdienst kooperieren, obwohl das Kind verdächtigt wird, kriminell zu sein.

  • Mehr Freizeitprojekte für Kinder in Vororten, um die Rekrutierung in Gangs zu verhindern.

Mit seiner neuen Regierung will er die Gewalt bekämpfen: Ulf Kristersson von den Moderaten wurde im Herbst zum neuen Ministerpräsident gewählt.
Nicht offiziell Teil der neuen Regierung, aber eine erstmals unverzichtbare Unterstützerpartei: die einst von Nazis mitbegründeten Schwedendemokraten mit ihrem Parteichef Jimmie Åkesson.
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Mit seiner neuen Regierung will er die Gewalt bekämpfen: Ulf Kristersson von den Moderaten wurde im Herbst zum neuen Ministerpräsident gewählt.

IMAGO/TT

Lösungsansätze werfen Fragen auf

Bei der Forderung nach härteren Strafen sind sich sogar linke und rechte Parteien einig – fraglich bleibt aber deren Wirkung. Denn Polizei und Justiz schaffen es in den meisten Fällen gar nicht erst, Verdächtige zu verurteilen. So bringen wohl auch härtere Strafen herzlich wenig.

Auch die Ausschaffung von mehr Kriminellen könnte neue Probleme hervorrufen: Viele der Gang-Mitglieder haben die schwedische Staatsbürgerschaft – wohin soll man diese Schweden also ausschaffen?

Der sprichwörtliche «heisse Brei»

Dass gerne und lange über Lösungen diskutiert wird, die allem Anschein nach wenig bewirken können, zeigte sich kürzlich in einer Sendung des Staatsfernsehens. Politiker, Betroffene und Fachpersonen waren zu einer Debatte über die Gangkriminalität eingeladen. Die zentrale Frage: Wie soll die Gangkriminalität gestoppt werden und was sind ihre Ursachen?

Schnell drehte sich die Diskussion nur noch um einen konkreten Lösungsvorschlag: Eltern von Jugendlichen, die sich im kriminellen Milieu bewegen, soll die Wohnung gekündigt und zwangsgeräumt werden können.

Während der Hälfte der einstündigen Sendung wurde über eine einzige Massnahme diskutiert.

Während der Hälfte der einstündigen Sendung wurde über eine einzige Massnahme diskutiert. 

Screenshot SVT

26 Minuten Sendezeit für Zwangsräumungen

Letztendlich unterbrach ein Gast die festgefahrene Diskussion: «Wir sprechen seit 26 Minuten über Zwangsräumungen, das ist ja furchtbar – wir müssen doch anfangen, präventive und langfristige Lösungen zu finden.» Auf die Ursachen der Problematik wurde in der Sendung letztendlich gar nicht eingegangen. 

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