Analyse: Bandenkriege ufern aus – diese acht Fehler hat Schweden gemacht

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AnalyseBandenkriege ufern aus – diese acht Fehler hat Schweden gemacht

Tödliche Schiessereien, Explosionen und Kindersoldaten: Schweden versinkt in den blutigen Konflikten der Bandenkriege. Wie konnte es im sonst so vorbildlichen Land dazu kommen?

20 Minuten war vor Ort in Stockholm und hat mit Betroffenen, Experten und der Polizei gesprochen.

20min/Noah Knüsel und Christina Pirskanen

Darum gehts

  • Schweden hat ein Problem mit Gang-Gewalt und kriminellen Netzwerken.

  • Das führte 2023 bereits zu 100 Schiessereien und neun Toten.

  • Die schwedischen Kriminologen Jerzy Sarnecki und Sven Granath nennen einige der Ursachen, die zur Problematik geführt haben.

  • Gemäss ihnen gebe es unter anderem Probleme bei der Integration, dem Klassenunterschied, der Polizei und dem leichten Zugang zu Waffen.

20 Minuten war in Stockholm und berichtet in einer Sonderserie über die Gangkriminalität, die Schweden seit Monaten in Atem hält. Doch woran liegt es, dass im nordischen Land eine so hohe Gewalt herrscht?

Um den Ursachen auf den Grund zu gehen, hat 20 Minuten mit den schwedischen Kriminologen Jerzy Sarnecki und Sven Granath gesprochen. Beide betonen, dass es keine einzelne Ursache gibt, die zur Gewalteskalation geführt hat – es sei vielmehr eine Mischung aus vielen verschiedenen Problemen. Das sind die wichtigsten. 

Segregation und Integration

Sarnecki: «Es gibt eine Gruppe junger Männer mit Migrationshintergrund, die sich sehr weit von der etablierten Gesellschaft entfernt haben. Sie führen nicht das gleiche Leben wie der Rest der Bevölkerung. Sie haben es nicht geschafft, sich zu integrieren. Es sind nicht die Menschen, die während der Flüchtlingswelle 2015 nach Schweden gekommen sind, sondern Kinder von Geflüchteten, die viel früher hier waren. Es ist eine Minderheit, die Ärger macht und Waffen benutzt. Die Mehrheit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nimmt am schwedischen Kultur- und Arbeitsleben teil.»

Klassenunterschied

Granath: «Ein grosser Teil der Bevölkerung hat Eltern, die beide im Ausland geboren wurden, meist in einem Dritte-Welt-Land. Sie sind arm, wenn sie nach Schweden kommen, was zu einem Klassenunterschied führt. Wir haben hier grosse Haushalte, in denen die Kinder verschiedene Risikofaktoren haben, in die Kriminalität abzugleiten. Etwa, weil die Eltern Schwierigkeiten haben, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen und im Schichtdienst arbeiten oder die Kinder kein eigenes Zimmer haben und stattdessen viel Zeit im Freien verbringen. In den letzten 15 Jahren hat sich auch die soziale und finanzielle Kluft vergrössert.»

«Wenn man immer wieder scheitert und weiss, dass man keine Chance hat, dann sucht man nach alternativen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung», sagt Kriminologe Jerzy Sarnecki. Er ist emeritierter Professor an der Universität Stockholm.

«Wenn man immer wieder scheitert und weiss, dass man keine Chance hat, dann sucht man nach alternativen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung», sagt Kriminologe Jerzy Sarnecki. Er ist emeritierter Professor an der Universität Stockholm.

Privat

Schlechte Zukunftsaussichten

Sarnecki: «In unserem Bildungssystem ist es sehr schwierig, von der Grundschule ins Gymnasium zu kommen. Für einen Job braucht es aber eine Ausbildung. Es gibt Erwachsenenbildungsprogramme, doch insgesamt ist die Situation sehr schlecht. Wenn man immer wieder scheitert und weiss, dass man keine Chance hat, dann sucht man nach alternativen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.»

Gewalttätige junge Menschen

Sarnecki: «Die Leute denken, dass jüngere Menschen weniger gewalttätig sind, aber das Gegenteil ist der Fall. Je jünger sie sind, desto emotionsloser und gewalttätiger sind sie. Wenn die Polizei Straftäter zwischen 18 und 20 Jahre verhaftet, entsteht ein Vakuum. Dann rücken die jüngeren, sozial weniger angepassten nach. Gewalt und Grausamkeit nehmen zu.»

Unvorbereitete Polizei

Sarnecki: «Die Polizei hat nicht gelernt, mit diesem Problem umzugehen. Es ist schwierig, die Verbrechen aufzuklären, weil es nur wenige Beweise gibt und eine Kultur des Schweigens herrscht. Die Menschen sprechen nicht über das, was sie gesehen haben. Es braucht effizientere Polizeiarbeit und mehr aufgeklärte Mordfälle. Die Menschen, die schiessen, müssen lange eingesperrt werden. Aber härtere Strafen alleine werden junge Menschen nicht abschrecken – sie haben nicht die Fähigkeit, sich den Konsequenzen bewusst zu sein.»

«Wir hätten vielleicht etwas proaktiver mit den Ressourcen für Sozialdienste und Schulen umgehen sollen», sagt der schwedische Kriminologe und Polizist Sven Granath.

«Wir hätten vielleicht etwas proaktiver mit den Ressourcen für Sozialdienste und Schulen umgehen sollen», sagt der schwedische Kriminologe und Polizist Sven Granath.

Kaunitz-Olsson

Leichter Zugang zu Waffen

Granath: «Wir sehen ein grosses Angebot an illegalen Waffen in den Grossstädten. Es gab einen kleinen, aber kontinuierlichen Schmuggel von Waffen aus dem Balkan, dem ehemaligen Ostblock und der Türkei. Waffendelikte wurden lange nicht priorisiert und mit tiefen Strafen belegt. Erst 2018 wurde das Gesetz verschärft, weil die Schiessereien während zehn Jahren stark zugenommen hatten.»

Umfangreicher Drogenmarkt

Granath: «Der Drogenmarkt ist gewachsen und hat sich neu strukturiert. Die Präferenz hat sich von Alkohol auf Kokain und Cannabis verlagert. Das hat dazu geführt, dass mehr Drogen nach Schweden importiert werden. Zudem hat die Digitalisierung die Kommunikation erleichtert, was die ganze Logistik vereinfacht.»

Späte Reaktion

Granath: «Wir hätten durchaus früher reagieren können, vor allem bei den Waffendelikten und den schärferen Strafen. Erst jetzt, in den letzten zwei Jahren, sehen wir mehr Beschlagnahmungen von Waffen. Ausserdem hätten wir vielleicht etwas proaktiver mit den Ressourcen für Sozialdienste und Schulen umgehen sollen.» 

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