Schweden: «Politik kann das Problem nicht mehr unter den Teppich kehren»

Aktualisiert

Schweden«Sie können das Problem nicht mehr unter den Teppich kehren»

Lange konnte die Eskalation in den kriminellen Kreisen Schwedens ungehindert seinen Lauf nehmen. Doch seit die Kriminalität in der Innenstadt angekommen ist, sieht sich die Politik gezwungen, zu handeln.

20 Minuten war vor Ort in Schweden und hat Gang-Aussteiger Ali* getroffen.

20min/Noah Knüsel und Christina Pirskanen

Darum gehts

  • In Schweden sind tödliche Schiessereien zwischen jungen Männern fast schon zur Normalität geworden. 

  • Lange schenkte die Politik dem Problem nicht allzu viel Aufmerksamkeit.

  • Der schwedische Politwissenschaftler Tommy Möller erklärt, weshalb es so lange dauerte, bis die Regierung handelte.

Die Gangkriminalität hat Schweden fest im Griff. Dass sich Jugendliche erschiessen und die Gewaltbereitschaft und organisierte Kriminalität omnipräsent ist, ist aber nicht erst seit gestern so.

Lange konnte sich die Gewalt ausbreiten, ohne dass allzu viel dagegen unternommen wurde. Die wenigen Versuche der Politik, die Problematik einzudämmen, brachten offensichtlich wenig – erst in den vergangenen Jahren wurde die ausufernde Gang-Gewalt mehr und mehr zum Thema. Auch heute ist es noch ein Tabuthema, wie uns aus unterschiedlichen Kreisen gesagt wird – über die Ursachen wollen die wenigsten sprechen.

Unterschiedliche Erklärungen der Ursachen

Aber welche Regierung verpasste den Handlungszeitpunkt? Wie konnte es zu dem Punkt kommen, an dem in Schweden niemand mehr die Augenbraue hebt, wenn jemand auf offener Strasse erschossen wird? «Die Schuld kann nicht einer einzigen Regierung zugeschoben werden», erklärt Tommy Möller. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stockholm. «Zwischen den Parteien gab es lange unterschiedliche Auffassungen über die Schwere des Gewaltproblems.»

Die konservativen Moderaten und Schwedendemokraten hätten schon früh den Fragen zur Gang-Gewalt eine höhere Priorität eingeräumt und, im Gegensatz zur Linkspartei und den Grünen, die Probleme als sehr ernst angesehen, sagt Möller.

Sozioökonomische Ursachen versus Einwanderung

Auch über die Ursachen für die Zunahme der Gewalt sei sich die Politik uneinig gewesen: Die Linken, einschliesslich der Grünen und der Sozialdemokraten, hätten sozioökonomischen Ursachen betont: dass etwa die Kinder von Arbeitslosen und Unterprivilegierten keine Chance hätten, in die Gesellschaft einzutreten, so Politologe Möller.

Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten hätten dagegen die hohe Einwanderung und den Multikulturalismus als Ursache hervorgehoben. Diese Ansicht habe sich nun durchgesetzt, abgesehen von einigen linken Parteien.

Meinungsführer und Mittelschicht haben Kriminalität nicht mitbekommen

Laut Möller werde teils eine zynische Auffassung darüber, weshalb das Gang-Problem lange nicht angegangen wurde, in der Debatte hervorgebracht: «Es heisst, die Probleme hätten nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten, weil sie mit der weitgehenden Segregation in Schweden zusammenhängen.» Die Meinungsführer oder aber auch die Mittelschicht hätten also nicht viel von den Bandenschiessereien und der Kriminalität mitbekommen, sagt Möller.

«Nun, wo das Problem aber für alle erkennbar ist, kann es nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.» Die Tatsache, dass die Gang-Gewalt immer näher an die Mittelklasse-Quartiere vorrückt, führe auch dazu, dass die Problematik in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit erhalte.

«Mehr Akzeptanz für Massnahmen, die die Integrität verletzen»

In den letzten Monaten und der weiteren Zunahme der tödlichen Schiessereien habe sich ein Konsens von rechts bis links für mehr repressive Massnahmen gebildet. Gefordert werden mehr Mittel für die Polizei und härtere Strafen.

Auch die Akzeptanz für Massnahmen, welche die Integrität verletzen, steigt. Dazu zählen etwa Durchsuchungszonen in bestimmten Gebieten mit besonders hoher Kriminalitätsrate, in denen die Polizei ohne vorgängigen Verdacht Leibesvisitationen durchführen darf. Das Tidö-Abkommen der neuen Rechtsregierung enthält eine Reihe umstrittener Reformvorschläge, die sich jetzt im Entwurfsprozess befinden. 

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