Schweden«Unterschiedliche Regierungen haben nicht genug getan»
Die tödliche Gang-Gewalt in Stockholm betrifft viele Gemeinden, eine davon ist Huddinge. 20 Minuten hat mit der Vorsitzenden des Gemeinderats über Ursachen und Lösungen gesprochen.
20 Minuten war vor Ort in Schweden und hat Gang-Aussteiger Ali* getroffen.
20min/Noah Knüsel und Christina PirskanenDarum gehts
In der Süd-Stockholmer Gemeinde Huddinge starben 2023 bereits zwei Menschen aufgrund der Gang-Gewalt.
20 Minuten hat mit der Vorsitzenden des Gemeinderates gesprochen.
Sie erzählt, welche Massnahmen in Huddinge ergiffen werden und kritisiert, dass bisher seitens der Politik noch nicht genug getan wurde, um den Schiessereien ein Ende zu setzen.
Der Schweiz gibt sie Ratschläge mit auf den Weg, um einer ähnlichen Situation vorzubeugen.
Hier findest du alle Artikel und Videos zum Thema
Reportage, Teil 1: «Die Gang-Mitglieder erschossen meinen Sohn mitten in der Stadt»
Schiessereien, Explosionen, tote Kinder – so brutal tobt der Gangkrieg in Schweden
«Fuchs und Bros» vs. «Grieche» – die 40 brutalen Gangs von Stockholm
Eskalierende Bandenkriege in Schweden – diese 8 Fehler führten dazu
Reportage, Teil 2: «Bevor sie mich töten, töte ich sie»
So stürmen kriminelle Vorstadt-Rapper die schwedischen Charts
Lokalpolitikerin: «Unterschiedliche Regierungen haben nicht genug getan»
Politologe: «Sie können das Problem nicht mehr unter den Teppich kehren»
Was die Schweiz besser macht als Schweden – und wo es brenzlig wird
Huddinge im Süden Stockholms musste schon viele Erfahrungen mit der Gang-Gewalt machen. Allein seit Januar ist es dort zu vier Schiessereien gekommen. Zwei Menschen starben.
16 Jahre lang stand die Gemeinde unter der Führung der konservativen Moderaten Partei, nun haben die Sozialdemokraten in einer Koalition mit der Mitte und den Grünen die Macht übernommen. Sara Heelge Vikmång ist seit 2008 sozialdemokratische Lokalpolitikerin in Huddinge – vergangenen Herbst wurde sie zur Vorsitzenden des Gemeinderats gewählt.
Sara Heelge Vikmång, wie konnte Schweden in diese Situation geraten?
Dafür gibt es mehrere Gründe: etwa die zunehmende räumliche Segregation, unzureichende Integration und unzureichende Investitionen in die Kriminalprävention. Klar ist, dass unterschiedliche Regierungen in den letzten Jahrzehnten nicht genug getan haben.
Was wäre also die Lösung?
Es braucht konkrete Investitionen in die Kriminalprävention – meiner Meinung nach engagiert sich die derzeitige Regierung zu wenig dafür. Es reicht nicht aus, die Verbrechen zu bekämpfen, wir müssen auch die Ursachen der Kriminalität ins Visier nehmen.

Sara Heelge Vikmång ist Sozialdemokratin und seit Herbst die Vorsitzende des Gemeinderats in Huddinge.
Huddinge KommunIn Huddinge geschahen dieses Jahr bereits zwei Morde: Ein 15-Jähriger in Skogås und ein 30-Jähriger in Flemingsberg wurden erschossen. Wie geht man als Gemeinschaft damit um?
Es ist ein äusserst tragisches Ereignis, wenn ein 15-Jähriger erschossen wird – ganz Huddinge ist davon betroffen. Es trägt zur Verunsicherung bei und löst Besorgnis aus. Die Gemeinde bemühte sich, den Betroffenen – nicht zuletzt den anderen Jugendlichen und Eltern – Unterstützung und Informationen zukommen zu lassen. Jugendzentren und Freizeiteinrichtungen öffneten ihre Türen, um Kindern und Jugendlichen Zugang zu sicheren Räumen mit erwachsenen Vorbildern zu ermöglichen, die ihnen auf Augenhöhe begegneten.

Am 28. Januar rückte die Polizei ins Zentrum von Skogås aus. Dort war es in einem Sushi-Restaurant zu einer Schiesserei gekommen, bei der ein 15-jähriger Junge starb.
IMAGO/TTWie geht es Ihnen dabei, wenn solche Gewalttaten passieren? Gewöhnt man sich ein Stück weit daran?
Diese Gewalt darf und sollte niemals normalisiert werden. Wenn tödliche Gewalt ihre Präsenz erhöht, muss die Gesellschaft ihre erhöhen. Prävention ist immer und in jeder Hinsicht sinnvoller als nachträgliche Massnahmen. Die Gesellschaft muss schnell und wirksam eingreifen, wenn junge Menschen Gefahr laufen, in die Kriminalität abzugleiten.
Welche Massnahmen ergreift ihr in Huddinge?
Wir brechen eine 16-jährige Opposition mit starken Investitionen in Schulen, den Sozialdienst, Freizeitzentren, Kultur- und Sportvereinen und mehr. Gerade eben wurden in Skogås und Stuvsta Sicherheitskameras installiert, weitere sind in Planung. Zudem stellen wir mehr Sicherheitskräfte ein und verstärken die Aussteigerorganisationen. Die soziale Nachhaltigkeit soll in den Vordergrund gerückt werden und wir mobilisieren all unsere Kräfte, um die Segregation aufzubrechen und die Kriminalität sowie ihre Ursachen zu verhindern.

Anwohnende legen Kerzen und Blumen vor dem Sushi-Restaurant nieder, in dem der 15-jährige Junge erschossen wurde.
IMAGO/TTAuf welche Massnahmen muss man sich fokussieren, um das Problem rasch in den Griff zu bekommen?
Es ist notwendig und gut, dass es einen breiten Konsens über die Wichtigkeit repressiver Massnahmen gibt – härtere Strafen, mehr Polizisten, mehr Instrumente für die Strafverfolgungsbehörden. Doch obwohl wir mehr Polizeibeamte als je zuvor haben und mehr Bandenkriminelle als je zuvor hinter Gittern sitzen, gehen die Gewalt und die Morde weiter. Also braucht es auch Prävention: Wenn der Glaube an die Zukunft verloren geht, werden Gangs und Gewalt zu einer Option. Der wirksamste Weg, junge Menschen vor der Kriminalität zu bewahren, besteht darin, ihnen etwas Besseres zu bieten: eine gute Ausbildung, eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, einen ersten Arbeitsplatz und die Möglichkeit, von zu Hause auszuziehen.
Das rät Sara Heelge Vikmång der Schweiz
Baut Wohnungen, die sich die Menschen leisten können.
Sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche Freizeitzentren, Sportplätze und Spielplätze haben, wo sie sich aufhalten können und wo es Erwachsene gibt, die sie inspirieren und ein gutes Vorbild sein können.
Stellt sicher, dass die Schulen über die notwendigen Ressourcen und genügend Lehrpersonen verfügen, um auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Schüler eingehen zu können.
Baut die Sozialdienste aus und beseitigt Hindernisse bei der Zusammenarbeit zwischen den Behörden, damit mehr Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien frühzeitig Unterstützung erhalten – lange bevor die Probleme ernst werden.
Bekämpft die Segregation mit der ganzen Kraft der Gesellschaft.
Sorgt für eine frühzeitige Bekämpfung der Gangs und Gang-Anführer.
Verfolgt das Geld der Gang-Führer und -Mitglieder: Nehmt ihnen ihre mit illegal erworbenen Mitteln finanzierten Luxusautos und Luxuskleider ab, verfolgt und verurteilt sie für die Verbrechen, die sie begehen – und für die Unsicherheit, die sie für uns alle, aber vor allem für diejenigen, die in ausgegrenzten Vororten leben, verursachen.
Keine News mehr verpassen
Mit dem täglichen Update bleibst du über deine Lieblingsthemen informiert und verpasst keine News über das aktuelle Weltgeschehen mehr.
Erhalte das Wichtigste kurz und knapp täglich direkt in dein Postfach.