Gewalt: Schiessereien, Bomben, tote Kinder – so brutal tobt der Gangkrieg in Schweden

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BandenkriminalitätSchiessereien, Bomben, tote Kinder – so brutal tobt der Gangkrieg in Schweden

In Schwedens Grossstädten grassieren blutige Konflikte zwischen rivalisierenden Vorort-Gangs. 2022 starben deswegen so viele Personen wie noch nie – ein Ende ist nicht in Sicht.

20 Minuten war vor Ort in Stockholm und hat mit Anwohnern, direkt Betroffenen und der Polizei gesprochen.

20min/Noah Knüsel und Christina Pirskanen

Darum gehts

  • In Schweden eskaliert die Gang-Gewalt.

  • 2022 starben so viele Menschen wie noch nie aufgrund von Schiessereien.

  • Dieses Jahr geht es im selben Takt weiter.

  • Brisant ist auch das Alter der Täter: Schon 15-Jährige werden als Auftragsmörder eingesetzt.

  • Die Polizei hat Schwierigkeiten damit, die Täter zu fassen.

Tödliche Schiessereien auf offener Strasse, Explosionen in Hauseingängen und 15-jährige Auftragskiller: Das Vorzeigeland Schweden wird von einer Welle der Gewalt überrollt. Besonders die Grossstädte Stockholm, Malmö und Göteborg sind betroffen.

2022 erreichte die Gewalt in Schweden einen traurigen Höhepunkt: 391 Mal kam es zu Schusswechseln, 61 Menschen starben dabei. Das Land ist europäischer Spitzenreiter in Sachen tödlicher Schusswaffengewalt.

Seit Januar 2023 ist es bereits zu 46 Sprengungen und 100 Schiessereien gekommen, neun Menschen sind dabei gestorben. Die letzten tödlichen Schiessereien sind nur wenige Tage her – am Mittwochabend wurde ein Mann südlich von Stockholm ermordet. Am Donnerstag starb ein 18-Jähriger in Eskilstuna.

Gewaltsame Konflikte um Drogenterritorium

«Wir befinden uns in einer Art Kriegsgebiet auf niedriger Stufe, das in regelmässigen Abständen ausbricht», sagte der Polizeichef der Region Mitte, Jale Poljarevius, im schwedischen Fernsehen. Eine Vielzahl der tödlichen Konflikte spielt sich in den Vororten um Stockholm ab. 22 dieser Vororte werden von der Polizei als «gefährdete Gebiete» eingestuft – sechs weitere als «besonders gefährdet».

In Rinkeby, einem dieser besonders gefährdeten Gebiete, war ein 27-Jähriger am Weihnachtstag nach der Feier mit der Familie auf dem Weg zu seinem Auto. Just an diesem Tag entschied sich der Mann, der laut Polizei der Gang «Dödspatrullen» (Todespatrouille) angehörte, seine schusssichere Weste nicht zu tragen. Ein fataler Fehler: Auf dem Parkplatz fingen ihn maskierte Täter ab und erschossen ihn. Der Mord gilt als Start der neusten Gewaltwelle, die seit Anfang Jahr zu mehreren Morden und Explosionen geführt hat.

Am Weihnachtstag wurde im Vorort Rinkeby nördlich von Stockholm ein 27-Jähriger auf einem zentralen Parkplatz erschossen.

Am Weihnachtstag wurde im Vorort Rinkeby nördlich von Stockholm ein 27-Jähriger auf einem zentralen Parkplatz erschossen.

IMAGO/TT

Jugendliche Auftragsmörder

Anfang März wurde ein 50-jähriger Mann erschossen – der Vater eines Gangmitglieds, der sich von seinem Sohn distanziert hatte. Wenige Tage später wurde eine Wohnung in Brand gesetzt, wobei die Mutter und die 17-jährige Freundin eines Gangmitglieds starben. «Die Rivalen suchen und töten aktiv Eltern und Angehörige», sagt der schwedische Journalist Diamant Salihu, der sich seit Jahren mit der Gangkriminalität in Schweden auseinandersetzt und die Szene gut kennt, zu 20 Minuten. «Das ist eine neue Entwicklung, die wir bisher so nicht gesehen haben.»

Auffallend ist auch das Alter der jungen Männer, die in die Gangs rekrutiert werden. Teils sind die Todesschützen gerade mal 15 Jahre alt. Auch die Opfer vieler Schiessereien sind meist nicht viel älter als 25 Jahre. Im Januar dieses Jahres wurde ein 15-jähriger Junge in einem Sushi-Restaurant in Skogås erschossen – seine mutmasslichen Mörder sind zwischen 15 und 26 Jahre alt. Das hat System: Die Köpfe der Gangs setzen auf Jugendliche, weil unter 18-Jährigen in Schweden viel mildere Strafen ausgesprochen werden – maximal vier Jahre in einer Jugendvollzugsanstalt. 

Die Anteilnahme am Tod des 15-Jährigen in Skogås war gross. Viele Anwohnende und Angehörige legten Blumen und Kerzen vor dem Sushi-Restaurant nieder, in dem der Jugendliche erschossen wurde.

Die Anteilnahme am Tod des 15-Jährigen in Skogås war gross. Viele Anwohnende und Angehörige legten Blumen und Kerzen vor dem Sushi-Restaurant nieder, in dem der Jugendliche erschossen wurde.

IMAGO/TT

«Schlecht fürs Business, Menschen zu erschiessen»

Gemäss Polizei sind in der Region Stockholm rund 40 kriminelle Netzwerke aktiv, in denen sich etwa 1500 Gangmitglieder und 1300 illegale Waffen bewegen. «Die organisierten Gangs kontrollieren ihre Mitglieder stärker – sie wissen, dass es schlecht fürs Business ist, Menschen zu erschiessen», so Salihu.

«Die Netzwerke in den Vororten hingegen sind sehr unorganisiert. Sie machen sich Kinder zunutze, haben keine Anführer und denken nicht über die Konsequenzen eines Mordes nach», sagt er. Auch das Business sei ihnen egal, wichtiger sei der Status. 

Die neueste tödliche Schiesserei ist nur wenige Tage her: Am Mittwochabend wurde an der U-Bahnstation Skärholmen im Südwesten Stockholms ein Mann mit Gang-Verbindung getötet. Ein weiterer, unbeteiligter Mann wurde dabei verletzt.
Bereits in der Nacht zum Mittwoch wurde ein Mann bei einer Schiesserei verletzt. Er soll laut Polizei im Vorfeld entführt und beim Fluchtversuch angeschossen worden sein.
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Die neueste tödliche Schiesserei ist nur wenige Tage her: Am Mittwochabend wurde an der U-Bahnstation Skärholmen im Südwesten Stockholms ein Mann mit Gang-Verbindung getötet. Ein weiterer, unbeteiligter Mann wurde dabei verletzt.

IMAGO/TT

Polizei tut sich schwer

Die Polizei hat Schwierigkeiten, die Verbrechen aufzulösen und die Todesschützen festzunehmen. Die Aufklärungsquote bei tödlichen Schiessereien beträgt nur rund 25 Prozent – «das ist beschämend niedrig», wie Salihu festhält. Das sende auch ein Zeichen an die Kriminellen, dass das Risiko, für einen Mord erwischt zu werden, sehr klein sei.

Die Polizei erklärt die tiefe Zahl damit, dass sie Schwierigkeiten habe, Zeugen zu finden – aus Angst wolle niemand aussagen, die Schweigekultur sei weit verbreitet. Die tiefe Aufklärungsrate führe zu einem Teufelskreis, so Salihu: «Sehen die Einwohnerinnen und Einwohner der betroffenen Nachbarschaften die mutmasslichen Mörder frei herumlaufen, verlieren sie das Vertrauen in die Behörden.» 

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