Gang-Gewalt: Was die Schweiz besser macht als Schweden – und wo es brenzlig wird

Publiziert

VergleichWas die Schweiz besser macht als Schweden – und wo es brenzlig wird

Segregation, fehlende Integration und schlechte Zukunftsperspektiven: Die Ursachen für die Gewaltwelle in Schweden sind zahlreich. Doch wie schlägt die Schweiz sich im Vergleich?

20 Minuten war vor Ort in Schweden und hat Gang-Aussteiger Ali* getroffen.

20min/Noah Knüsel und Christina Pirskanen

Darum gehts

  • Die Gangkriminalität hat sich in Schweden zu einem grossen Problem entwickelt.

  • Die Suche nach Ursachen offenbart eine Vielzahl an Fehlern und Unachtsamkeiten.

  • Ein Professor für Raumentwicklung und Stadtpolitik erklärt, wie die Situation in der Schweiz aussieht.

  • Für ihn ist klar: Auch hier gibt es Themen, die mehr Aufmerksamkeit bedürfen.

Die Gang-Gewalt in Schweden stellt die Behörden, aber auch die ganze Bevölkerung vor enorme Herausforderungen. Doch wie sieht es in der Schweiz aus? Könnte es auch hier zu Problemen kommen? Was machen wir besser, wo haben wir Aufholbedarf?

Wie die Kriminologen Jerzy Sarnecki und Sven Granath festhalten, sei das schwedische Problem aus einer Mischung unterschiedlicher Ursachen entstanden. Auch David Kaufmann, Professor für Raumentwicklung und Stadtpolitik an der ETH Zürich, betont die Vielschichtigkeit der Probleme: Es gebe keine einfache Erklärung.

Herr Kaufmann, weshalb sind die Vororte in Schweden so abgespalten?

In den 60er-Jahren hat man in Schweden, vor allem rund um Stockholm, das sogenannte «Millionenprogramm» durchgeführt. Dafür wurden, wie der Name schon suggeriert, eine Million Wohnungen gebaut – man hat geschaut, wo es Platz hat und stellte dann diese Blöcke in grossem Stil hin. Es sind eigentlich Satellitenstädte entstanden.

Der Vorort Rinkeby im Nordwesten Stockholms ist eine der typisch aussehenden Städte, welche im Rahmen des Millionenprogramms aufgebaut wurden.

Der Vorort Rinkeby im Nordwesten Stockholms ist eine der typisch aussehenden Städte, welche im Rahmen des Millionenprogramms aufgebaut wurden.

IMAGO/TT

Viele Wohnmöglichkeiten – das klingt doch gut?

Beim Bau wurde eher auf die Funktionalität geachtet. Man bedachte beim Millionenprojekt Aspekte wie Integration, soziale Interaktionen oder Vielschichtigkeit nicht wirklich. Die soziale Durchmischung ist bis heute ungenügend.

20 Minuten besuchte Stockholms vergessene Vororte und sprach mit Betroffenen von Gang-Gewalt. So auch Libaan: «Gang-Mitglieder erschossen meinen 19-Jährigen Sohn auf offener Strasse.» Seine Geschichte erzählt er im Video.

Video: Noah Knüsel, Christina Pirskanen

Man hört öfter, dass dies sogenannte «No-go-Zones» wären …

Der Begriff «No-go-Zones» ist sehr despektierlich. Für die Bewohnenden findet dort ihr normales Alltagsleben statt, sie gehen arbeiten und ihre Kinder gehen dort zur Schule. Solche Kommentare führen nur zur weiteren Stigmatisierung dieser Quartiere.

David Kaufmann ist Professor für Raumentwicklung und Stadtpolitik an der ETH Zürich.

David Kaufmann ist Professor für Raumentwicklung und Stadtpolitik an der ETH Zürich.

ETH Zürich

Haben wir in der Schweiz auch solche abgegrenzten Wohnsiedlungen?

In der Schweiz kennen wir das weniger. Es gibt zwar einige in Basel, Bern oder Zürich – diese sind aber viel kleiner und besser in die umliegende Stadtstruktur integriert. Hier ist es vor allem eine Segregation von gut Verdienenden, zum Beispiel am Zürichberg. Das und der Neubau von teureren Wohnungen führen zu einer Verdrängung von Geringverdienenden, Ausländern und Alleinerziehenden. Dieses Problem müssen wir angehen, sonst könnte es in den nächsten 15 Jahren problematisch werden.

Welche Folgen hat eine solche räumliche Segregation?

Sie führt zu Unterschieden in den Bildungschancen und -erfolgen. Kinder haben nicht die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten. Für den Schulerfolg braucht es nämlich eine Durchmischung, dann können auch Kinder ohne akademische Eltern besser lernen. Und: Wir müssen in mehr Lehrpersonen, Kindergartenlehrkräfte, Kitamitarbeitende und Sozialarbeitende investieren – das sind die wichtigsten Personen, um Chancengleichheit zu schaffen.

Auch Fittja im Südwesten Stockholms gehört zu den Vororten, in dem Gangs sich auf offener Strasse bekämpfen.

Auch Fittja im Südwesten Stockholms gehört zu den Vororten, in dem Gangs sich auf offener Strasse bekämpfen.

imago images/Nils-Johan Norenlin

Weshalb ist die Bildung so wichtig?

Wenn Kinder schulisch nicht nachkommen und die Eltern nicht ausreichend integriert sind, fehlen ihnen wichtige Netzwerke und Sicherheitsnetze. Solche Siedlungen können dann schnell zum Rekrutierungsort für kriminelle Organisationen werden.

Droht das auch in der Schweiz?

Hier sehen wir das weniger. Wir haben keine Jugendgangs, sondern eher kleinere, etablierte kriminelle Organisationen. Zudem sind Drogen und Drogenkonsum in Schweden stark kriminalisiert im Gegensatz zur Schweiz. Dadurch entstehen natürlich ein Schwarzmarkt und Möglichkeiten für kriminelle Banden.

Eine Luftaufnahme des Vororts Tensta im Nordwesten Stockholms.

Eine Luftaufnahme des Vororts Tensta im Nordwesten Stockholms.

imago images/A. Farnsworth

Wir haben also weniger Probleme als Schweden – ist unsere Integrationspolitik einfach besser?

Nein, wir haben nicht unbedingt eine bessere Integrationspolitik. Aber: Wir haben einen boomenden Arbeitsmarkt. Wir waren auf diese Bevölkerung angewiesen. Ausserdem ist unser Bildungssystem sehr durchlässig.

Das Problem liegt in Schweden häufig nicht bei Neuankömmlingen – sondern bei Kindern von Personen mit Migrationshintergrund. Sind Zweit- und Drittgenerationen in der Schweiz wenigstens besser integriert?

Ich höre hier sehr viel Frust von Personen mit Migrationshintergrund: Obwohl sie sich in der Schweiz engagieren, gibt es Ungleichheiten und sie haben nicht die gleiche Ausgangslage wie Schweizerinnen und Schweizer. Die ewige Diskussion mit der Schweizer Fussball-Nati etwa, «Wer ist Schweizer, wer nicht» ist symptomatisch dafür. Hier fehlt noch die Offenheit für ein Schweizer Selbstverständnis, das auf Migration basiert.

Keine News mehr verpassen

Mit dem täglichen Update bleibst du über deine Lieblingsthemen informiert und verpasst keine News über das aktuelle Weltgeschehen mehr.
Erhalte das Wichtigste kurz und knapp täglich direkt in dein Postfach.

Deine Meinung zählt